Lesezeichen von: Ossip Mandelstam
„Und inmitten der spröden Einrichtung dieses Arbeitsraumes stand ein kleiner Bücherschrank mit Glastür und einem grünen Taftvorhang. Von dieser Bücheraufbewahrung möchte ich nun erzählen. Der Bücherschrank der frühen Kindheit ist ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. Die Anordnung seiner Fächer, die Auswahl der Bücher, die Farbe der Buchrücken gilt ihm als die Farbe, Höhe und Anordnung der Weltliteratur selbst. Ja, jene Bücher, die nicht im ersten Bücherregal gestanden haben, werden es nie schaffen, ins Weltgebäude einzudringen, das die Weltliteratur bedeutet. Ob man will oder nicht, ist jedes Buch im ersten Bücherschrank klassisch, und auch nicht einen einzigen Buchrücken könnte man daraus entfernen.“
Ossip Mandelstam, „Der Bücherschrank“, zitiert nach: „Bahnhofskonzert. Das Ossip-Mandelstam-Lesebuch“, Herausgeber Ralph Dutli, Fischer Taschenbuch 2015.
Ossip Mandelstam schrieb dies über den Bücherschrank seiner Eltern. Literarisch eine privilegierte Kindheit: Neben den fünf Büchern Mose versammelte sich da „das in Staub gestürzte jüdische Chaos“, darüber die klassischen Deutschen Schiller, Goethe und auch Kerner, Shakespeare in deutscher Sprache, und natürlich die Russen: Puschkin, „auf Dostojewski lag ein Verbot, eine Art Grabplatte, und man sagte von ihm, dass er schwer sei.“ Turgenjew mit „seinen gemächlichen Gesprächen“ war dem jungen Ossip dagegen erlaubt.
Ginge es nach dem Bücherschrank meiner Kindheit und der Theorie Mandelstams, dann wären Uta Danella, Konsalik und Johannes Mario Simmel Bestandteil der Weltliteratur – meine Eltern waren Mitgliedern in Buchclubs. Ein Schiller stand da zwar auch herum, da ein gebürtiger Württemberger – aber ansonsten war wenig Klassik im Hause. Insofern kann ich Mandelstam nur bedingt zustimmen – der Bücherschrank der Kindheit ist ein Schrank auf dem Weg – aber die Schranktüren der Literatur stehen in einer freien Gesellschaft glücklicherweise jedem, der will, jederzeit offen.
Guten Morgen, Birgit,
ja, mir geht es wie dir und auch meine Eltern waren Mitglieder des Buchclubs und hatten die selbe gute Mischung im Schrank. Im Schrank ist wörtlich gemeint. Wir haben zu viert in einer 2-Zimmer Wohnung gewohnt, da war kein Platz für Bücherregale. Sowohl im Zimmer meiner Eltern als auch im Zimmer von meinem Bruder und mir waren Schrankbetten in Schrankwänden ohne Regale aber mit viel Stauraum aufgestellt. So waren die Bücher im sogenannten Barfach, was meine Eltern nicht benötigten.
So kann ich Mandelstam auch nicht zustimmen. Aber ich habe schon oft festgestellt, dass sich Akademikerkinder schwer vorstellen können, wie es bei Arbeiterkindern zu Hause zugeht Es liegen Welten dazwischen, was nicht heisst, dass nicht in beiden Haushalten die Liebe und der Respekt zwischen Eltern und Kindern das große Thema sein sollte.
Einen schönen Tag von Susanne
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Liebe Susanne,
wie schon bei Claudia kommentiert: Es ist nicht unbedingt wichtig, was die Eltern lesen, Hauptsache dass … es gibt genügend Haushalte, in denen steht überhaupt kein Buch. Und in meinen ersten bewußten Lesejahren fand ich mich von Simmel & Co auch prächtig unterhalten - dass ich dann irgendwann einen anderen Geschmack entwickelt habe - das war ja auch nur möglich, weil überhaupt gelesen wurde. Ich würde diese Bücher jedoch heute nicht mehr in meinen Kanon aufnehmen - anders, als Mandelstam das ja etwas voraussetzt.
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Wobei ich hier Mandelstam anders verstehen würde. Es geht eher um die ersten Eindrücke der eigenen Lesebiographie- und die halte ich mit Mandelstam für prägend.
Dass bei ihm dafür der heimische Bücherschrank als Metapher dient, hat eher etwas mit seinem eigenen Erleben ohne öffentlich und frei zugängliche, voll ausgestattete Bibliotheken zu tun - für ihn war eben der Bücherschrank das prägende Bild. Siehe hierzu auch Golo Manns Beitrag 》Wir alle sind, was wir gelesen.《
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Ich kann da nicht so ganz zustimmen - mir ging es zunächst darum, dass eben nicht jeder in seiner Kindheit im Bücherschrank der Eltern/Großeltern die Klassiker, die Bücher der Aufklärung, die großen Humanisten vorfindet - und dennoch zu einem offenen Leser werden kann.
Und ich meine - Lesen entwickelt uns weiter, aber unwillkürlich greifen wir doch zu der Art Literatur, die zu uns passt, beziehungsweise lesen uns auch die Bücher „zurecht“…Wir alle sind, was wir gelesen - aber wir lesen auch, was wir sind - von unserer Persönlichkeit her, Neigungen etc.
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LIebe Birgit,
da gibt es ja offensichtlich viele Leser und Blogger, die den ersten Lese-Kontakt eben nicht mit den altehrwürdigen Klassikern hatten, sondern mit den Druckergebnissen aus dem Buchclub des Hause B.:-). Davor aber war: Astrid Lindgren, der Schule sei Dank. Ich denke also auch, dass Leser sich auch nach den ersten Leseeindrücken noch eine ganz andere Lesebiographie aneignen können.
Viele Grüße, Claudia
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Liebe Claudia,
mich hat an dem Zitat auch etwas die Überhöhung gestört: Nicht jeder, der später die Klassiker liest (oder andere Literatur), ist mit Schiller&Goethe aufgewachsen. Allerdings: Meine Eltern haben zumindest immer etwas gelesen, wenn es auch nicht meinen Geschmack traf. Und sie haben das Lesen ihrer Kinder gefördert - das ist natürlich schon wichtig für die Prägung. Wichtig ist: Dass man liest …
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Das stimmt, das Lesen überhaupt ist wichtig. Und das Vorlesen. Bei mir sind es tatsächlich die Grimm´schen Märchen gewesen, die meine Mutter mir, noch bevor ich selbst lesen konnte, vorgelesen hat. Und so vielleicht diese unbändige Leselust geweckt hat. So kam es dann, dass ich in der Familie völlig aus der Art geschlagen bin (ich weiß nicht einmal, ob außer mir jemand die Buchclub-Bücher gelesen hat…), das schwarze Schaf halt. Wenn wir das Mandelstam-Zitat also so weit fassen, dann trägt es sicher ganz viel Wahrheit.
Viele Grüße, Claudia
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Schon schlimm, wenn man durch Lesen das schwarze Schaf wird Aber die Erfahrung mache ich auch heute noch manchmal je nach sozialem Umfeld: „Was Du liest?“ (das klingt dann nach: „Igitt, wie kann man nur?“)
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Was ich mich immer frage, ist, wie diese offenen Bücherregale Regen und gar Schnee überleben. Die Variante „umgebaute ehemalige Telefonzelle“ kommt mir da viel praktischer vor, auch wenn da etwas weniger Platz ist.
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Die Bücherschränke basieren ja auf ehrenamtlichen Engagement - da reicht nicht überall das Geld für Telefonzellen oder gar eigens hergestellte Schränke. Aber selbst, wenn die bei Regen und Schnee leiden (meist sind da ja dann auch keine Bücher drin): Die einfache Variante wie im Bild finde ich fast noch besser - weil sich da jeder rantraut. Neulich stand ich vor einem, den bekam ich nicht mal auf …was ja auch nicht Sinn der Sache ist
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Aufmachen sollte man sie natürlich schon können
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Auf jeden Fall
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Wenn ich so darüber nachdenke, dann kommt die Erinnerung an ein großes, dunkles Regal wieder hervor, in dem sich Konsalik an Scholochow, Dostojewski an die Brüder Mann gereiht hat. Meine Eltern haben alles gelesen, was ihnen so unter die Augen kam. Und für uns Kinder gab es ja noch einen Extraschrank voller Bilder- und Märchenbücher und später dann auch Romane und Geschichten. In meinen Schränken herrscht heute auch noch so eine wilde Mischung.
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Liebe Lola, alles gelesen, was ihnen unter die Augen kam: Das klingt sympathisch. Und auch, dass da alles, so wie bei Dir, seinen Platz hat - wilde Leser sind einfach klasse
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Liebe Birgit, Du sprichst mir in den Kommentaren aus dem Herzen. Konsalik & Co haben es zwar erst nach dem Mauerfall in die Bücherregale meiner Eltern geschafft, aber unsere Kindheitserfahrung scheint doch sehr ähnlich zu sein. In einem großen Bauernhaus (naja, groß für DDR-Verhältnisse) aufgewachsen, hatten wir sogar sehr viel Platz für Bücherregale. Aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass es nicht immer einfach war, an richtig gute Bücher, also solche, die nicht der sozialistischen Erziehung galten, zu kommen. Aber meine Mutter ging glaube ich jeden Tag in die Buchhandlung am Busbahnhof, bevor sie den Bus nach Hause nahm. Und deshalb hatte ich schon als Kind sehr viele Bücher.
Mein Lesegeschmack hat sich seitdem sehr verändert und ich glaube, er verändert sich immer weiter, so, wie wir uns auch als Persönlichkeiten immer weiter entwickeln, weil wir ständig neue Erfahrungen machen.
Liebe Grüße, Peggy
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Liebe Peggy, neulich tauschte ich mich mit einer Freundin, die aus Zwickau stammt, über die unterschiedlichen Ost-West-Leseverhältnisse in unserer Generation aus. Was für uns „Wessies“ natürlich immer unschlagbar günstig war - die ganzen Taschenbücher (an den Look des Aufbau-Verlages kann ich mich noch gut erinnern, auch an das graustichige Papier). Infolge des Zwangsumtausches von 25 Mark habe ich bei meinen Ost-Berlin Besuchen mit einer Marx- und Engels-Bibliothek ausgestattet, aber auch zahllose Klassiker (Schiller etc.) gekauft, die dort (Unter den Linden) einfach unschlagbar günstig waren …. aber da war ich natürlich kein Kind mehr. Und: Der Osten hatte starke Frauenliteratur! Aber natürlich war mir mit 15, 16 auch noch nicht richtig klar, dass Freiheit auch bedeutet, dass man theoretisch an jedes Buch kommen kann - was in der DDR eben nicht der Fall war.
Liebe Grüße Birgit
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