Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal

Du duckst dich gern weg, sagte sie überraschend.
Ich ahnte nur ungenau, was sie meinte, aber ich wollte entgegenkommend sein und sagte nur: Ja, geb` ich zu.
Fühlst du dich wohl dabei?
Schwer zu sagen, antwortete ich.
Deine Rückzugsgefechte führen nicht zu einem eigenen Leben, sondern höchstens zu einer Eigenbrötlerei.
Mir war nicht klar, wie ausgerechnet sie als Finanzbeamtin von einem eigenen Leben reden konnte. Aber ich war viel zu verblüfft, um zu widersprechen.
Merkst du, wie die Eigenbrötlerei mehr und mehr zu einer Abkapselung führt, sogar wenn wir im Bett liegen.
Das kann ich nicht nachvollziehen, sagte ich.
Und aus deiner Abkapselung tritt die Einsamkeit hervor und aus dieser ein vorzeitiges Altern.
Hast du diesen Satz auswendig gelernt, fragte ich.
Ich meine es ernst, sagte sie.
Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich jetzt schon gewusst hätte, wie die nächsten Stunden verlaufen würden. Tatsächlich saßen wir inzwischen wie zwei fremde Skulpturen an einem Cafétisch und achteten darauf, dass wir uns nicht anschauten. Am Nebentisch erklärte eine Mutter ihrem Kind, was eine Monatskarte ist.

Wilhelm Genazino, „Bei Regen im Saal“, Hanser Verlag, 2014.

Immer dasselbe: Ein Mann, meist Anfang bis Ende Vierzig, Einzelgänger, ohne berufliche oder private Perspektiven geschweige denn Ambitionen, meist mit einem Bein außerhalb der „normalen“ Gesellschaft stehend, meist mit einem Bein doch auch hineinwollend, mit einem halben Herzen in einer Liebesbeziehung, mit dem anderen halben Herzen nicht dabei, ein beobachtender Spaziergänger, Alltäglichkeiten registrierend und kontrollierend, nicht ohne Aburteilungstendenzen, ja, eigenbrötlerisch bis hin zur Misantrophie. Eine typische Genazino-Figur eben.

Mit großer Verlässlichkeit schickt der Frankfurter Schriftsteller einen dieser Anti-Helden alle ein, zwei Jahre auf den Weg. Man könnte sagen: Kennt man einen, kennt man alle. Und dennoch harre ich geduldig seit dem „Abschaffel“ um wieder einmal „Mittelmäßiges Heimweh“ oder das „Glück in glücksfernen Zeiten“ empfinden zu können, um einen „Regenschirm für einen Tag“ zu haben oder auch, um von „Der Obdachlosigkeit der Fische“ zu erfahren.

Nun also „Bei Regen im Saal“. Reinhard, 43 Jahre alt, (einer der seltenen Fälle, in denen die männliche Hauptfigur einen Vornamen erhält, wenn auch nur einmal nebenbei erwähnt) ist so ein Zwischendrinsteher, der nach den Möglichkeiten zur Durchführung des Lebens sucht.

„Ich war gerne zu Hause, wenn mich meine Müdigkeit ratlos machte. Gleichzeitig belastete mich die Unzufriedenheit mit meiner derzeitigen Lage. Ich sehnte mich nach mehr Normalität. Wie die meisten anderen Menschen wollte ich tagsüber arbeiten und nachts schlafen und am Wochenende ins Kino gehen.“

„Ich meinte auf der Haut zu spüren, wie mich die Abende zermürbten. Ich sehnte mich danach, ein gewöhnliches Leben zu führen. Die meisten Menschen wissen genau, was sie dürfen und worauf sie sich verlässlich freuen können.“

„Eines meiner Probleme war, dass ich mich für fast alles zu alt fühlte. Ich war vierundvierzig oder achtundvierzig, vielleicht aber auch erst einundvierzig. Wie meine Mutter hatte ich angefangen, mein genaues Alter nicht mehr wissen zu wollen. Jedenfalls war mir unklar, was ich inmitten der schnellverderblichen Welt noch anfangen sollte.“

Eines der Probleme der Reinhards und der unbenannten weiteren Genazino-Helden ist es zudem, dass sie meist nicht wissen, was sie wollen (und wenn sie es denn haben, wollen sie es nicht mehr), wohin und zu wem sie gehören (wollen). Oder auch nicht. Und, frei nach Teresa von Ávila, werden auch hier mehr Tränen über erhörte Gebete vergossen denn über die Unerfüllten…
So schlägt sich Reinhard, studierter Philosoph, als Nachtportier, Barmann und in freier Beratertätigkeit als „Überwinder“ (er, der von Ängsten selbst geplagte, hilft anderen bei der Angstüberwindung) durch, unterhält ein intimes Verhältnis zu Sonja („Wahrscheinlich verdankte ich es ihrem Druck, dass ich noch den Pfad der Ordentlichkeit gefunden hatte.“), prokrastiniert jedoch vor deren Verlangen nach elfjähriger Beziehung nach mehr Verbindlichkeit („Die Technik des schnellen Vergessens erinnerte mich an die Ehe meiner Eltern und beunruhigte mich. Tauchte am Horizont allmählich die Ehe auf?“) und etwaigen Erlebnissen. Eine Paris-Reise ist Überforderung pur. Als Sonja ihn jedoch verlässt, ereilt auch Reinhard die typische Genazino-Zuspitzung der seinen Figuren eigenen chronischen Sinnkrise.

„Während des Herumstehens im Regen gelang mir das Gefühl meiner momentweisen Abtrennung von der Welt. Dabei konnte ich mir die harmlose Freude am stillen Herumtrödeln nicht mehr länger leisten. Ich musste den Schlingerkurs meiner Existenz endgültig beenden. Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte.“

Überlassen wir hier Reinhard seinem Schicksal. Er wird, wie seine Vorgänger, noch einige Buchseiten herumstehen, herumlaufen, herumdenken, herumhadern, um dann von Sonja wieder aufgenommen zu werden. Um auch dann erneut nicht zu wissen, was er vom Leben will. Oder auch nicht.
Genazino lesen, das könnte auch niederdrückend sein. Für manche Leser vielleicht schon. Wer ihn jedoch schätzt, der kennt die Erfahrungen der Halberlebnisse, der Vollkommenheit einer persönlichen Unordnung, der Arbeit, dies braucht, um das Gefühl zu erfinden, halbwegs zur Welt zu gehören, das Gefühl der Verflusung des Lebens. Man kann sich dabei in eine Versenkung hineinlesen und dennoch Momente des Glücks in glücksfernen Zeiten erfahren. Sei es beim Beobachten einer tumben Taube. Sei es beim Genuss eines Mettwurstbrötchens. Oder einfach auch beim Anliegen bei einer Busenbegleitung.

Link zum Buch beim Verlag: http://www.hanser-literaturverlage.de/buecher/buch.html?isbn=978-3-446-24596-9

20 Gedanken zu „Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal

  1. (…) Erfahrungen der Halberlebnisse, der Vollkommenheit einer persönlichen Unordnung (…) :

    “Er wollte gerade anfangen, sich damit zu ängstigen, dass er eines Tages vielleicht keine Einfälle mehr zur Durchführung seines Lebens haben würde”, heißt es in Abschaffel …

    Was fehlt, sind die “Einfälle” :

    Aber keine Sorge: Nirgends leuchtet das ganz normal Blöde so immer wieder neu und unverwechselbar wie bei Wilhelm Genazino:

    Danke.

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      • Danke auch für die Löschung.

        Also: Wenn man in einer Lebensnot drin steckt, und sei sie noch so zart, dann ist man auch schon beglückt, wenn man (…) dann erleichtert bemerkt: Mein Unglück hat mich nicht ausgeschlossen. (…) Versagung heißt nicht Unglück, sondern Aufschub.

        Mein Unglück hat mich nicht ausgeschlossen. Woody Allen sagt, dass das Glück mit einer weißen Tinte schreibt …

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      • Re: (…) “Wobei ich nicht meine, dass Genazino irgendetwas, auch wenn es “normal” ist bzw. ihn, wie im neuen Roman, mitten in die Spießigkeit und Absurdität eines Familientreffens führt, als “Blöde” bezeichnen würde. Er ist skeptisch, vielleicht misantroph, aber nicht herablassend und nicht ohne Mitgefühl für die “Normalen” (…)

        Siehe auch Die nackte Sinnlosigkeit: Deutschlandfunk am 30.07.2014

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  2. Und dazu das passende Bild: der komische Buster Keaton mit dem traurigen Gesicht, gefangen in seiner eigenen Unzulänglichkeit … und doch, diese hoffnungslosen Helden sind liebens- und Geschichten über sie (zumeist) lesenswert; oft sind sie es, wenn Genazino sie erzählt.
    Ach ja, mir nah.
    Ihr Herr Hund

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  3. Es gab eine lange Zeit, da war ein “neuer Genazino” für mich ein Ereignis. Das ist nicht mehr so. Aber schön ist es schon immer noch und es finden sich garantiert einige Sätze, die sind so wundersinnig klug, dass allein dafür die Lektüre sich lohnen wird …

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    • Ich habe mal angefangen, seine wundersinnig klugen (schöner Ausdruck) Sätze in einem eigenen Notizbuch zu notieren. Das Problem war nur: Ich hab die ganzen Bücher beinahe komplett abgeschrieben…für mich, trotz der scheinbaren Redundanz ein unverwechselbarer.

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  4. Offensichtlich polarisiert Genanzino. Man liebt ihn oder kann ihm gar nichts abgewinnen. Ich gehöre wohl in die zweite Kategorie und alles, was Du über seine Romane und seine Helden schreibst, stimmt, aber mich bringen seine unentschlossenen Helden auf die Palme. Einmal haben eine Kollegin und ich uns bei einem Literaturkreistreffen so in Rage geredet über den unmöglichen Autor, der die allerlangweiligsten, bedenkenlos und ohne mit der Wimper zu zucken immer wieder Lebenszeit raubenden, völlig belanglosen Romane schreibt, dass die anderen Kollegen sich schon merkwürdig anschauten, mit Blicken fragten, ob bei uns wohl noch alles in Ordnung ist… So ist also Literatur: die einen sind begeitsert, die anderen machen einen möglihst weiten Bogen. Das sagt bestimmt ganz viel über die Leser aus - Herr Freud wäre wahrscheinlich begeistert.
    Viele Grüße, Claudia

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    • Liebe Claudia,
      bei Genazino ist es wohl so, wie Du schreibst: Entweder man liest ihn und mag das, oder lehnt es völlig ab. Aber keine Sorge, ich werde nicht mit Dir streiten - obwohl dem ersten Lager zugehörig. :-) LG Birgit

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      • Ah, da habe ich aber Glück gehabt! - Aber es ist ja wirklich spannend, wie unterschiedlich die Romane wirken können,andere Bücher mögen wir ja auch beide, sodass man ja gar nicht sagen kann, dass wir so völlig unterschiedliche Leser sind. - Und da ist ja auch schon Dein nächster Genanzino-Artikel. Ich bin dann mal lesen…

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  5. Liebe Birgit,
    wie schön, das Buch habe ich gerade zu Ende gelesen und nun lese ich hier Deine Besprechung. Da hast Du in meinen Augen voll ins Schwarze getroffen!

    Ja, es ist schon was komisches mit diesem Genazino. Seit Jahren denke ich bei jedem neuen Roman von ihm - und er veröffentlicht ja sehr regelmässig - ach, schon wieder der Genazino mit seinem immer gleichen Buch. Und dann kauf ich es mir doch. Und lese es an und denke, das kennst Du alles schon, was soll das, schon wieder so ein langweiliger Loser - und dann zieht es mich rein und ich lese das Ding in einem Rutsch zu Ende.

    Diese Genazino-Bücher haben für mich irgendwie Suchtcharakter. Ich finde diese klitzekleinen Alltagsbeobachtungen immer wieder grossartig, auch wenn ich diejenigen durchaus gut verstehen kann, die sich davon nicht ansprechen lassen.

    Aber es sind eben nicht nur die sich ewig um sich selbst drehenden Menschen (Männer!), die da regelmässig quasi den Hintern nicht hochkriegen. Nein, es sind diese Mikro-Beobachtungen, bei denen man sich (ich mich) immer wieder auch ertappt fühlt.

    Und dann findet man mit schöner Regelmässigkeit immer wieder diese Sätze. Diese grossartigen Sätze, wie die, die Du zum Schluss zitierst:

    ” … Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte.“

    Doch, doch, es ist wirklich immer wieder furchtbar mit diesem Genazino, so herrlich furchtbar und so furchtbar herrlich, weil man sich, wie Du so wunderbar formulierst
    ” … dabei in eine Versenkung hineinlesen und dennoch Momente des Glücks in glücksfernen Zeiten erfahren” kann. Genau so ist es.

    Danke und liebe Grüsse
    Kai

    P.S.: Lustig, das mit dem Reinhard. Als der Name auftauchte habe ich gedacht, mensch, jetzt geht er aber aus sich raus, der Autor. Und ich finde, der Reinhard passt auch ganz gut zum Wilhelm…

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