TRIO 26: Poesie schmeckt gut - ein lyrisches Literaturprojekt

Aus einer studentischen Initiative ist 1997 der Verein “POESIE SCHMECKT GUT e.V.” entstanden. Seit 2011 haben die Gesichter dahinter - Bo & Tom - ein besonderes Projekt: Die Lyrikheft-Reihe VERSENSPORN – Heft für lyrische Reize, möchte Autoren der literarischen Moderne in das Bewusstsein einer interessierten Öffentlichkeit zurückholen, die vergessen wurden. Sie holen dabei Expressionisten aus der Versenkung ebenso wie Autoren aus dem so genannten “literarischen Untergrund”; Surrealisten, Dadaisten, Symbolisten, aber auch Gegenwartsautoren sollen zu Wort kommen. Die Hefte erscheinen unregelmäßig, meist in einer Erstauflage von lediglich 100 Exemplaren und werden dann, so die Erstauflage vergriffen ist, als Print on Demand-Exemplare angeboten.
Mehr über den Verein, die Lyrik-Reihe und die bisher erschienenen Hefte findet sich hier: http://www.poesieschmecktgut.de/.

Einige der Vergessenen, denen sich VERSENSPORN bereits gewidmet hat:

EINEM FREUNDE

Man muß sehr leise und gut
mit mir sein.

Ich bin Paradieseserde
und Abendschatten.

Du weißt es.

Du bist ein Künstler.
Hinter Deinen Augen von Stahl
wohnen Sterne.

Ich gehe leicht über
die smaragdene Brücke.

Da stehe ich in einem sanften
Himmelreich.

Frida Bettingen (1865 – 1924).

Das Leben der expressionistischen Dichterin scheint überschattet von Verlusten – insbesondere der Tod ihres Sohnes Walter, der 1914 bei Verdun fällt, bringt ihre fragile Seele zum Zerbrechen. Mehrfach folgen bis zu ihrem Tod Aufenthalte in Heilanstalten für Nervenkranke, sie stirbt 1924 in der Psychiatrie in Jena. Trotz der fortschreitenden Verschlechterung ihres geistigen und körperlichen Zustandes schreibt Frida Bettingen, deren Nachlass heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird, weiter. Es entstehen Gedichte voller poetischer Trauer, zuweilen wird sie als Dichterin des Schmerzes bezeichnet.

Frida Bettingen ist das Heft Nr. 14 der Edition gewidmet. Das Heft bietet 40 Texte. Es enthält neben einer Auswahl aus dem Band Gedichte (1921) auch Texte aus dem Nachlass der Dichterin; vier dieser Nachlasstexte sind bislang unveröffentlicht.

DIE VIELEN FRAUEN IN DEN STÄDTEN

Die vielen Frauen in den Städten. -
Aus Sesseln steigen sie auf,
wie Vögel
aus den Nestern.
Manche sind schwanksam.
Wenn sie sich rückwärts neigen,
ihre Lippen die Wand berühren.
Die Raschen mit den Hinlehnenden
tauschen die Gebärden,
als kämen sie aus vielfacettigem Spiegel.
Würd ich sie anders alle so lieben?

Frauen mit fertigem Antlitz
schufen Wetter, Fröste und Wärme ums Herz hin,
das sich ihnen gab
wie ein Stern Göttinnen.
Sie stiegen hoch
aus all dem vielfiedrigen, lieblichen Kehlchenschwarm,
herrlicher!
Würd ich sie anders so lieben?

Peter Baum (1869 - 1916).

Peter Baum hat eine der widersprüchlichen Biographien dieser Zeit. Baum, bis zu seinem Tode eng auch mit Else Lasker-Schüler befreundet, kommt insbesondere zu Zeiten seines Studiums in Berlin in Kontakt mit der Avantgarde. Ab 1900 wirkt er an der „Neuen Gemeinschaft“ mit, einem freireligiösem Reformkreis, dem beispielsweise auch die Dichter der Münchner Räterepublik Erich Mühsam und Gustav Landauer (Ehemann von Hedwig Lachmann) nahestehen. Er arbeitet an Peter Hilles Kabarett mit und veröffentlicht in expressionistischen Zeitungen. Und dennoch: Auch Baum meldet sich, wie so viele seiner Zeit, freiwillig zum Militärdienst, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Er fällt 1916 in der Nähe von Riga.
Das Heft 15 zu Peter Baum bietet insgesamt 61 Texte, von denen einer bislang unveröffentlicht ist. Es enthält neben einer Auswahl aus Baums erstem Band mit Dichtungen Gott. - Und die Träume (1902) sowie einigen Gedichten aus verstreuten Publikationen auch die postum (1917) erschienenen Schützengrabenverse, die hier zum ersten Mal seit fast einhundert Jahren wieder geschlossen zugänglich gemacht werden.

FRAUEN IN DEN STRASSEN

Die Schenkelschweife an den Rippen.
Kopfhaft und wie ein Kuß gebaut,
Gleitest du dunkle Unterhaut
Seele: du Blutgestalt mit Lippen.

Der Tag voll Nase, Auge, Zopf
Hat die Magie, mich zu verwirren.
Schönheit zerreißt uns an der Stirn.
– Seele küsse mich an den Kopf!

Die Hände, deine Geberinnen,
Ein Erdlachen oder den Schrei.
Ich habe deiner Hände zwei
Verschluckt oder du machst mich innen.

Paul Boldt (1885 – 1921)

Zu Paul Boldt finden sich biographische Angaben bereits hier auf dem Blog: http://saetzeundschaetze.com/2014/07/26/paul-boldt-die-liebesfrau/

Zu Paul Boldt bietet das Versensporn Heft 9 insgesamt 52 Texte. Es enthält neben einer Auswahl aus Boldt einzigem Gedichtband Junge Pferde! Junge Pferde! auch Texte, die im Zeitraum von 1912 bis 1918 in Der Aktion erschienen.

 

Kurt Schwitters - Welt voll Irrsinn

Welt voll Irrsinn (ca. 1919)

Ich
du
er sie es
wir ihr sie,
ein friedhof,
lebendige forellensauce überlaut.
ich über du
überlaut
forellenfriedhof über
er du forellenfisch
lebendig still
du!
ein friedhof überstill
wir leben
wir
forelle lebt friedhof
wir leben
wir
forelle lebt friedhof
lebendige forelle spielt
wir spielen leben
ich spiele du,
still
spielen wir?
leben wir?
wir
ihr
sie

P.S.: Ich weiß leider nicht, was das für ein Fisch ist, den ich hier vor die Linse bekam. Ist aber auch fisch.
Wish you where here, fish.

Kurt Schwitters - Anna Blume

Bild: Rose Böttcher

Anna Blume

Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, —- Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist - - bist Du?
- Die Leute sagen, Du wärest, - laß sie sagen, sie wissen
nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.
Halloh, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot
liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir! – Du deiner dich dir, ich Dir, Du mir. — Wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1. Anna Blume hat ein Vogel.
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel?
Blau ist die Farbe Deines gelben Haares.
Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!
Du Deiner Dich Dir, ich Dir, du mir, - Wir?
Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste.
Anna Blume! Anna, a-n-n-a, ich träufle Deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt Du es Anna, weißt Du es schon?
Man kann Dich auch von hinten lesen, und Du,
du Herrlichste von allen,
du bist von hinten, wie von vorne:
„a-n-n-a“.
Rindertalg träufeln streicheln über meinen Rücken.
Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe Dir!

KURT SCHWITTERS (1887 – 1948)

Dieses 1919 erstmals von Schwitters veröffentlichte Gedicht – er wandelte es später noch mehrfach ab – ist wohl der bekannteste Text des Dadaismus. Parodiert wird das Ansingen der Geliebten, die Liebeslyrik ist mit purem Nonsense vermischt. Dieser und die weiteren Anna Blume Texte lösten in den 1920er Jahren einen Kult aus. „Anna Blume und ich“: Unter diesem Titel vereint der Arche Verlag (www.arche-verlag.com) die Anna-Blume-MERZ-Texte in einer sehr schönen, empfehlenswerten Ausgabe.