Gnusch im Fadechörbli oder Haikus in Prosa: Peter Bichsel

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„In Langnau im Emmental gab es ein Warenhaus. Das hieß Zur Stadt Paris. Ob das eine Geschichte ist?“

Peter Bichsel, „Zur Stadt Paris“, 1993, Suhrkamp Verlag

Das ist die kürzeste Geschichte der kurzen Geschichten, die Peter Bichsel in „Zur Stadt Paris“ veröffentlichte. Etwas stereotyp wird der Schweizer immer wieder als „großer Meister der kleinen Form“ bezeichnet. Als Miniaturist. Er ist derjenige, der Haikus mit einem Hauch Emmentaler schreibt. In Prosa. „Klein, kleiner, am kleinsten, Peter Bichsei“ so schrieb Andreas Isenschmid einmal über ihn in der „Zeit“. Wer aber dann meint, die kurzen Geschichten seien schnell zu lesen, der täuscht. Sie fordern ihre Zeit. Die Konzentration des Schreibenden setzt die Konzentration des Lesenden voraus. „So sind Geschichten. Man kommt mit ihnen nicht voran“, lauten dazu die tröstlichen Worte des Schriftstellers.

Auch sein erster Erzählband „Eigentlich möchte Frau Blum nur den Milchmann kennenlernen“ (ebf. Suhrkamp) hat nur 73 Seiten. Die kürzeste Erzählung „Erklärung“ umfasst gerade ein halbes Blatt. Mehr braucht es nicht in Bichsels Welt, um seinen Lesern zu erklären, was der Schnee mit ihm macht – der tröstliche, wärmende, blockierende, erdrückende Schnee. Kleinkunst in Bestform. Und obwohl so vieles ausgespart ist, die Wörter und Sätze auf das Wesentliche eingedampft sind, erfährt man die ganze Geschichte. Oft ein ganzer Kosmos, in wenige Sätze verpackt. Auch die der Frau Blum: Eine ältere Frau, die einsam ist. Ihr einziger regelmäßiger Kontakt ist der Milchmann. Die Kommunikation ist eine Zettelwirtschaft. Die Zettel sind es, die zwei Liter Milch und 100 Gramm Butter, die dem Leben von Frau Blum Rahm und Rahmen geben.

Meine Lieblingsgeschichten sind jedoch die vom „Eisenbahnfahren“, erschienen als Nr. 1227 in der Insel-Bücherei. Paris, die Bahn und davon insbesondere die Transsibirische – das sind die Koordinaten, um die sich Peter Bichsels gar nicht so kleine literarische Welt drehen.

Das Eisenbahnfahren hat mit der Kindheit zu tun: „Als Sechsjähriger kam ich mit meinen Eltern nach Olten. Und wenn mich jemand fragte: „Woher kommst Du“, sagte ich: „Wir kommen aus Luzern, wohnen aber in Olten.“ Meine Eltern taten sich in den ersten zehn Jahren schwer damit, sich mit Olten anzufreunden. Und nicht nur sie. Olten war eine Eisenbahnerstadt. Da gab es Lokomotivführer und Zugführer, die lange Zeit im schönen Tessin stationiert waren und nach Olten versetzt wurden. Sie hatten immerhin das Glück, billig Eisenbahn fahren zu dürfen.“ (Peter Bichsel, 2011, Rede zum Solothurner Literaturpreis).

Seine Fahrten finden oft nur in der Phantasie statt. Das zu erkennen, bleibt dem Leser überlassen. Eines dieser phantastischen Ziele war jahrzehntelang Paris. Bichsel umfuhr es sozusagen, mit der Literatur. Wie er dann schließlich doch noch in die Seine-Metropole gelangte, habe ich neulich beschrieben: http://saetzeundschaetze1.wordpress.com/2013/09/12/peter-bichsel-will-nicht-nach-paris/

Das Eisenbahnfahren hat wiederum mit der Haltung zur Welt zu tun. „Die Kunst des Eisenbahnfahrens ist die Kunst des Wartens, und darin liegt der eigentliche Zeitgewinn, dass man Zürich nicht zu erreichen hat, sondern zu erwarten.“ Und während Peter Bichsel wartet, übt er sich in seiner zweiten Kunst: Der des Hinschauens. Bichsel ist ein genauer Beobachter, ein Hinschauer mit einem guten Herzen. Isenschmid meinte in der „Zeit“ etwas süffisant, man müsse ab und an den sozialpädagogischen Vorhang wegziehen vom Kern der Geschichte. Aber gerade das sind die kleinen Erzählungen, die offenbaren, wie offen Bichsel gerade auf jene schaut, die sonst unsichtbar bleiben wollen oder müssen: Auf die leicht Verdrehten wie in „Der Mann mit dem Gedächtnis“. Auf die, die durch das Netz gefallen sind. Auf die, die keiner mehr haben will. Wie Frau Blum.

Wenn ich mit der Eisenbahn fahre, nehme ich künftig immer einen Band von Peter Bichsel mit. Damit ich auch was sehe.

Oder ein Hörbuch – zum Sehen, Staunen und Lachen. Denn Humor kann er auch. Siehe hier: http://www.suhrkamp.de/mediathek/transsibirische_geschichten_p_bichsel_297.html

Der bei Suhrkamp veröffentlichte Lebenslauf:

Peter Bichsel wurde am 24. März 1935 in Luzern geboren und wuchs als Sohn eines Handwerkers ab 1941 in Olten auf. Am Lehrerseminar in Solothurn ließ er sich zum Primarlehrer ausbilden. 1956 heiratete er die Schauspielerin Therese Spörri († 2005). Er ist Vater einer Tochter und eines Sohnes. Bis 1968 (und ein letztes Mal 1973) arbeitete er als Primarlehrer. 1964 wurde er mit seinen Kurzgeschichten in Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen auf einen Schlag bekannt; die Gruppe 47 nahm ihn begeistert auf und verlieh ihm 1965 ihren Literaturpreis. Zwischen 1974 und 1981 war er als persönlicher Berater für Bundesrat Willi Ritschard tätig, mit dem er befreundet war. Mit dem Schriftsteller Max Frisch war er bis zu dessen Tod 1991 eng befreundet. Er ist seit 1985 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

http://www.bernerzeitung.ch/region/emmental/Das-stille-Ende-im-Haus-zur-Stadt-Paris/story/20844979: Das ist die Geschichte vom Haus Zur Stadt Paris.