Man frage nicht
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.
Karl Kraus (1874-1936)
„Man frage nicht“ erschien im Oktober 1933 in der 888. Ausgabe der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel. Der Text ist eine Reaktion auf die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland. Das Gedicht rief Konfrontationen hervor - einerseits kam Kraus auf die Liste derer, die “schädliches und unerwünschtes Schrifttum” verbreiteten, andererseits wurde ihm das Verstummen, unter anderem von Brecht, zum Vorwurf gemacht.
Kraus hatte die Zeitschrift Die Fackel 1899 gegründet. Er war von Beginn an Herausgeber und Autor – eigentlich war die Zeitung Ausdruck seines Schaffens, seiner Überzeugungen und Ansichten. Die Ausgabe im Oktober 1933 war die dünnste Fackel, die er jemals herausgab: Gerade vier Seiten, darunter dieses Gedicht. Die letzte Nummer der Fackel erschien 1936, vier Monate vor seinem Tod, die Ausgabe endet mit dem Wort: Trottel.
Bild: Portrait von Karl Kraus, gemalt von Oskar Kokoschka 1925