Und Welle kommt und Welle flieht,
Und der Wind stürzt sein Lied,
Schaumwasser spielt an deine Schuhe
Knie nieder, Wandrer, ruhe.
Es wälzt das Meer zur Sonne hin,
Und aller Himmel blüht darin.
Mit welcher Welle willst du treiben?
Es wird nicht immer Mittag bleiben.
Es braust ein Meer zur Ewigkeit,
In Glanz und Macht und Schweigezeit,
Und niemand weiß wie weit –
Und einmal kommst du dort zur Ruh,
Lebenswandrer, Du.
Gerrit Engelke (1890-1918)
1956 schrieb Karl Ludwig Schneider in der Zeit ein lesenswertes Portrait über Engelke in der Reihe über vergessene deutsche Dichter: “Wenn Engelke heute zu den vergessenen Dichtern zählt, so handelt es sich in diesem Fall wohl kaum um jenes produktive Vergessen, mit dem Unwesentliches ausgeschieden wird, sondern eher um eine bedenkliche Schwäche unseres literarischen Erinnerungsvermögens.”
Wie ist dir nun,
meine Seele?
Von allen Märkten
des Lebens fern,
darfst du nun ganz
dein selbst genießen.
Keine Frage
von Menschenlippen
fordert Antwort.
Keine Rede
noch Gegenrede
macht dich gemein.
Nur mit Himmel und Erde
hälst du
einsame Zwiesprach.
Und am liebsten
befreist du
dein stilles Glück,
dein stilles Weh,
in wortlosen Liedern.
Wie ist dir nun,
meine Seele?
Von allen Märkten
des Lebens fern,
darfst du nun ganz
dein selbst genießen.
Neulich deutschten auf deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend,
Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der deutscheste sei.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich:
Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.
Jetzt wettdeutschten sie, deutschend in grammatikalischer Deutschheit,
Deutscheren Komparativ, deutschesten Superlativ.
“Ich bin deutscher als deutsch.” “Ich deutscherer.” “Deutschester bin ich.”
“Ich bin der Deutschereste oder der Deutschestere.”
Drauf durch Komparativ und Superlativ fortdeutschend,
Deutschten sie auf bis zum - Deutschesteresteresten,
Bis sie vor komparativistisch- und superlativistischer Deutschung
Den Positiv von deutsch hatten vergessen zuletzt.
Reise-, Sommer-, Wandertipp: Auf den Spuren Rückerts kann man auf dem Friedrich-Rückert-Weg wandern. Dieser führt von seinem Geburtsort im fränkischen Schweinfurt bis nach Coburg, wo der Dichter, Philosoph und Orientalist seine letzten Jahre verlebte. Dorthin hatte er sich zurückgezogen – der Freigeist, der sich Sprachen wie Persisch, Türkisch, Vedisch, Sanskrit, Bengalisch, Tartarisch und viele mehr angeeignet hatte, passte nicht in den frömmelnden Wissenschaftsbetrieb. Lehrtätigkeiten an den Universitäten in Erlangen und Berlin (solche Abstecher sind auf dem Friedrich-Rückert-Weg natürlich nicht vorgesehen) endeten als enttäuschende Erfahrung.
Auf Bergeshöhen schneebedeckt,
Auf grünen Hügeln weitgestreckt
Erglänzt die Morgensonne;
Die tauerfrischten Zweige hebt
Der junge Buchenwald und bebt
Und bebt in Daseinswonne.
Es stürzt in ungestümer Lust
Herab aus dunkler Felsenbrust
Der Gießbach mit Getose,
Und blühend Leben weckt sein Hauch
Im stolzen Baum, im niedren Strauch,
In jedem zarten Moose.
Und drüben wo die Wiese liegt,
Im Blütenschmuck, da schwirrt und fliegt
Der Mücken Schwarm und Immen.
Wie sich’s im hohen Grase regt
Und froh geschäftig sich bewegt,
Und summt mit feinen Stimmen.
Es steigt die junge Lerche frei
Empor gleich einem Jubelschrei
Im Wirbel ihrer Lieder.
Im nahen Holz der Kuckuck ruft,
Die Amsel segelt durch die Luft
Auf goldenem Gefieder.
O Welt voll Glanz und Sonnenschein,
O rastlos Werden, holdes Sein,
O höchsten Reichtums Fülle!
Und dennoch, ach – vergänglich nur
Und todgeweiht, und die Natur
Ist Schmerz in Schönheitshülle.
Kleines Ding, um uns zu quälen,
Hier in diese Brust gelegt!
Ach wers vorsäh, was er trägt,
Würde wünschen, thätst ihm fehlen!
Deine Schläge, wie so selten
Mischt sich Lust in sie hinein!
Und wie Augenblicks vergelten
Sie ihm jede Lust mit Pein!
Ach! und weder Lust noch Qualen
Sind ihm schrecklicher, als das:
Kalt und fühllos! O ihr Stralen,
Schmelzt es lieber mir zu Glas!
Lieben, hassen, fürchten, zittern,
Hoffen, zagen bis ins Mark,
Kann das Leben zwar verbittern;
Aber ohne sie wärs Quark!
Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792): Typisch Sturm und Drang, diese Zeilen. Gebeutelt von Gefühlen, die in ihrer Wucht schwer zu ertragen sind. So war auch das Leben von Lenz, dessen Biographie Georg Büchner in seiner Novelle als Vorlage nahm, ein stürmisches, von Höhen und Tiefen geprägt. Lenz litt an paranoider Schizophrenie, die erstmals 1777 bei ihm diagnostiziert wurde. Dennoch konnte er bis zu seinem frühen Tode noch schreiben und veröffentlichte einige Dramen und Prosawerke.
Geh aus / mein hertz / und suche freud
In dieser lieben sommerzeit
An deines Gottes Gaben:
Schau an der schönen gärten zier,
Und siehe / wie sie mir und dir
Sich ausgeschmücket haben.
Nein, das Herz bleibt heute drinnen. Weil es viel zu heiß ist, um sich draußen an den Gaben der Natur zu laben. Allenfalls wird das Herz die letzten Reste Eiscreme aus der Truhe scharren, die Füße in eine Schüssel Wasser stecken und dann sich die Zeilen von Mr. Kirchenlied mal in aller Ruhe zu Gemüte führen.Paul Gerhardt (1607 - 1676) beschrieb die Pracht des Sommers in ingesamt 15 Strophen - in voller Länge sind sie hier zu lesen. Das Gedicht wurde erstmals 1653 in einem Gesangbuch von Johann Crüger veröffentlicht.
Trickreich war er schon, der Herr Gerhardt: Wiegt man sich zunächst im Glauben, da schwelge einer nur an und vom Busen der Mutter Natur, schlägt er mittendrin eine Volte und kommt auf sein eigentliches Thema zu sprechen: Von wegen schöne Natur, Paradies ist viel besser. Deshalb:
Doch gleichwol wil ich / weil ich noch
Hier trage dieses leibes joch /
Auch nicht gar stille schweigen /
Mein hertze soll sich fort und fort /
An diesem und an allem ort
Zu deinem lobe neigen.
Was er jedoch mit dem Lustgeschrei von Schafen UND von Hirten meint, ist mir echt ein Rätsel…
Wer gibt uns unsern Kinderglauben
An eine treue Welt zurück?
Ach, schließt den allzu scharfen Blick!
Was uns die Zuversicht kann rauben,
Zerstört des Herzens Glück.
Dein denkt mein Geist mit Wohlgefallen,
O Zeit, wann, fremd’ in klüg’rer Welt,
Man traut zu jedem sich gesellt,
Und arglos, wie die Nachtigallen,
In offne Schlingen fällt.
O Glück, noch kindlich hinzulangen,
Nach Blumen, eh’ man sie benennt,
Nach Freuden, die man halb nur kennt;
Wenn unser Blick, kaum aufgegangen
Nicht Schein und Wesen trennt!
Ihr Tage, wo wir klüger werden,
Wie schwül ist euer Mittagslicht,
Wenn die Erfahrung warnend spricht:
Vollkommnes weilet nichts auf Erden!
Was blühet, währet nicht.
Wohl dann dem liebenden Gemüthe,
Das sein Vertrauen rein bewahrt,
Und, sein Gefühl sei noch so zart,
Nie zweifelt an des Edeln Güte,
Noch an der Menschen Art.
Johann Gaudenz von Salis-Seewis
Man sagt so leichthin, Erfahrung mache reicher. Doch habe ich oft den Eindruck, ich sei eher von älteren Menschen umringt, die an ihren Erfahrungen knabbern, die im Alter verhärten, wenn nicht gar verbittern. Irgendwann auf der Lebensstrecke ist die Fähigkeit, ganz kindlich sich vertrauensvoll dem Leben in die Hand zu geben, verloren gegangen.
Das ist, wenn man dies miterlebt, traurig: Es sind nicht die positiven Erfahrungen, die Glücksmomente, die als „Haben“ auf dem Lebenskonto verbucht werden, sondern die negativen Erlebnisse, das Versäumte und das Verpasste, was in der Bilanz überwiegt.
Schön wäre es, einen Ausgleich zu finden: Von Erfahrungen gelernt, 60 Jahre plus minus und ein Stückchen weise, aber dennoch mit einem kindlichen Urvertrauen in das Leben alt zu werden.
Johann Gaudenz von Salis-Seewis (1762-1834) hatte ein Leben reich an Erfahrungen: „Der Dichter-General. Eine dramatische Biographie des J. G. von Salis-Seewis“ (Hans Peter Gansner).
Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.
Johann Wolfgang von Goethe
Alles andere als eine Goethe-Expertin, weiß ich nicht, wann und in welcher Lebensphase er diese Zeilen schrieb (ich hoffe, dass einer aus der geneigten Leserschaft das nachreichen kann). Aber es ärgert mich doch jedes Mal, wenn ich diese Verse von irgendeinem Tourismusverband vereinnahmt sehe. Nach dem Motto: „Bleibe im Lande und ernähre die heimische Tourismusindustrie redlich.“ Das ist viel zu eng gefasst. War Goethe selbst doch auch ein Reisender, ein Weltoffener, der vom fernöstlichen Diwan träumte. Auch er in der Champagne! Und mancher Glücksmoment auf der italienischen Reise.
Mir kommt das Gedicht vor wie eine Selbstbeschwichtigung Goethes. Ich vermute, es entstand in seinen späteren Lebensjahren. Zwar immer noch die Gedanken von Ferne im Kopf, auch von den vielfältigen Möglichkeiten der Liebe. Aber zurückgeworfen auf die Weimarer Realitäten, die hofräthlichen Verpflichtungen, Bürokratie, Kabale und Intrigen, der Busenfreund Schiller tot, die Christiane so fordernd, der Sohn missraten. Und dann noch immer ein heißes Herz in der Brust, aber man(n) kann nicht mehr so wie man will, was bleibt, ist elegisches Schwärmen in Marienbad. Da möchte man sich doch oft einfach in die nächste Kutsche schmeißen und alles hinter sich lassen.
So hat der Titel „Erinnerung“ durchaus einen doppeldeutigen Klang für mich: Es klingt die Erinnerung mit an vergangene Zeiten, als man schweifen und sich treiben lassen konnte, als man freier und beweglicher war. Da kommt Sehnsucht auf nach Zeiten, in denen alles einfacher und leichter erschien. Und dann muss das angesprochene Du daran erinnert werden, das, was vor Augen liegt, genau anzusehen und zu entdecken, was gut ist.
„Willst du immer weiter schweifen?“: Ich stelle mir vor, wie Old Goethe sich selbst diese Frage in einem strengen Ton stellt. Und sich ermahnt: Was war, das war gut, aber das Leben findet hier und jetzt statt. Jetzt, an dieser Stelle und in diesem Moment.
Und dann schreibt er wieder ganz erlöst in sein Brevier:
„Das höchste Glück ist das, welches unsere Mängel verbessert und unsere Fehler ausgleicht.“ (Maximen und Reflektionen).