Matthias Claudius - Der Mond ist aufgegangen

Marc Chagall: Aleko und Zephira im Mondlicht

Der Mond ist aufgegangen
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar…

Generationen von Kindern wurden mit diesem Lied in den Schlaf gesungen und deliriert. Das berühmteste Wiegenlied der Deutschen. Geschrieben von einem, der wohl wissen musste, wie man Kinder ruhig stellt: Denn Matthias Claudius (1740 - 1815) hatte derer ein Dutzend. Und um die Großfamilie durchzubringen, musste der Pastorensohn ordentlich schuften - das “Abendlied”, 1779 erstmals im “Vossischen Musenalmanach” erschienen, ist zwar sein bekanntestes, aber freilich nicht das einzige Werk. Andere Gedichte - so das von Schubert vertonte “Der Tod und das Mädchen” -  werden kaum so mit seinem Namen verbunden.

Und auch jetzt, da sich der Todestag des Lyrikers und Journalisten zum 200. Male jährt (er verstarb am 21. Januar 1815), wird vor allem der Mond aufgehen. Wüßte Matthias Claudius, was zum Teil aus seinem Gedicht gemacht wurde, er würde sich wohl im Grabe drehen…

Hier heult und nölt uns Herbert den Mond an. Schauerlich:

Eine Interpretation, die mir weitaus mehr zusagt, von Dieter Hildebrandt:

Hugo Salus - Der genügsame Liebhaber

Max Pechstein

Meine Freundin hat eine schwarze Katze
Mit weichem, knisterndem Sammetfell,
Und ich, ich hab’ eine blitzblanke Glatze,
Blitzblank und glatt und silberhell.

Meine Freundin gehört zu den üppigen Frauen,
Sie liegt auf dem Divan das ganze Jahr,
Beschäftigt, das Fell ihrer Katze zu krauen,
Mein Gott, ihr behagt halt das sammtweiche Haar.

Und komm’ ich am Abend die Freundin besuchen,
So liegt die Mieze im Schoße bei ihr,
Und nascht mit ihr von dem Honigkuchen
Und schauert, wenn ich leise ihr Haar berühr.

Und will ich mal zärtlich tun mit dem Schatze,
Und daß sie mir auch einmal «Eitschi» macht,
Dann stülp’ ich die Katze auf meine Glatze,
Dann streichelt die Freundin die Katze und lacht.

Dies ist eines von zwei Gedichten von Hugo Salus, die Arnold Schönberg für die sogenannten Brettl-Lieder vertonte. Mehr dazu im Arnold Schönberg Center.

Hugo Salus, Arzt, Novellist und Lyriker, wird 1866 als Sohn eines jüdischen Veterinärbeamten in Böhmisch-Leipa (Ceská Lípa) geboren. In Prag studiert er Medizin und ist dort ab 1895 als renommierter Frauenarzt tätig. Zusammen mit dem Lyriker Friedrich Adler (1857 - 1938) wird er zum führenden Vertreter der Prager Literaturszene um die Jahrhundertwende. Er veröffentlicht im «Simplicissimus», in der «Jugend» und im «Ver Sacrum». Als «extremer Assimilant» (Franz Werfel) polemisiert er gegen die zionistische Bewegung; er ist befreundet mit dem jungen Rilke und mit Arthur Schnitzler; Heinrich Vogeler illustriert einige seiner Lyrikbände. 1901 vertont Arnold Schönberg zwei seiner Gedichte, «Einfältiges Lied» und «Der genügsame Liebhaber». Karl Kraus kritisiert vehement die biedermeierliche Idyllik seiner neuromantischen Lyrik. 1929 stirbt er in Prag.
Quelle: bibliotheca Augustana

#Portrait. C. F. D. Schubart - Der Rebell und die Forelle

An Mops

Sei dumm!
Dies wünsch′ ich dir zum neuen Jahr!
Warum?
Weil Dummheit in dem alten Jahr
So manches Schöpsen Glück gebar.
Darum
Sei dumm!

Er war ein Multitalent: Dichter, Komponist, Organist und Revoluzzer. Und er war der berühmteste politische Gefangene seiner Zeit: Christian Friedrich Daniel Schubart (1739 bis 1791). Obwohl auch von Schiller bewundert, von Hölderlin geschätzt und von anderen verehrt, ist Schubart heute jedoch als Schriftsteller weitestgehend vergessen. Nur wenige wissen, dass der Text des Liedes “Forelle”, das Franz Schubert vertonte, von Schubart stammt.

Schubart war ein „wilder Hund“: Unangepasst, mit einer spitzen Feder und Zunge, den gemeinsamen Zechgelagen mit Freunden nicht abgeneigt – und er hatte das Talent, sich immerfort in Schwierigkeiten zu bringen. Ein lebenslustiges Naturell und ein kritischer Geist in einem, so erlebten ihn die Freunde, die er auch in Schriftstellerkreisen in hoher Zahl hatte. Viele von ihnen setzten sich später, als Schubart der “berühmteste” politische Gefangene in der Festung Hohenasperg war, für ihn ein.

Der Sohn eines Pfarrvikars und Lehrers legte sich schon früh mit der Obrigkeit an. Der Württemberger war bis 1769 Organist und Musikdirektor am Hof in Ludwigsburg, wurde dann aber wegen seiner Kritik an Aristokratie und Geistlichkeit des Landes verwiesen.

Mit der ab 1774 in Augsburg erscheinenden Zeitschrift Teutsche Chronik wurde er deutschlandweit berühmt-berüchtig: Die Mischung aus Nachrichten und der Veröffentlichung populärer Dichter diente Schubart vor allem auch als Plattform für Angriffe gegen Gott & die Welt. Weil also auch in der Chronik gegen Kirche & Staat, deren totalitären Anspruch und Verschwendungssucht an den Höfen polemisiert wurde, verbot der Augsburger Magistrat den Druck, der dann ab 1775 in Ulm fortgesetzt wurde.

Als Schubart jedoch unter anderem des württembergischen Herzogs Karl Eugen Mätresse Franziska von Hohenheim als “Lichtputze, die glimmt und stinkt” verspottete, schritten die Schergen ein. Schubart wurde entführt, ab 1777 war er im Kerker der Bergfestung Hohenasperg kaserniert. Ohne Besucher, mit Schreib- und Leseverbot in den Anfangsjahren, blieb Schubart zehn Jahre eingesperrt. Trotzdem entstanden weitere Gedichte - so auch dieses:

Liebe im Kerker

H – ist der Ort, wo ich gefangen bin.
In Banden wein’ ich hier mein Trauerleben hin,
Und immer dennoch bleibt dies unglückvolle Leben
Der Liebe Tyrannei zum Opfer hingegeben.

Gezwungen tugendhaft, weil du nicht bei mir bist,
Fluch’ ich der Unschuld oft, die mir beschwerlich ist.
Noch bis zur Wuth verliebt soll ich die Liebe zwingen!
Wie schwer, wie grausam ist’s, bei meiner Pein zu ringen

Ach, eh’ einmal die Ruh’ dies arme Herz erquickt,
Eh’ die Vernunft einmal die Glut in mir erstickt:
Wie oft, wie oft werd’ ich noch lieben, noch bereuen,
Verlangen, hassen, flehn, verzweifeln, suchen, scheuen!

Mich mir entreißen – ja! – denn dies gebeut die Pflicht.
Und alles will ich thun, nur dich vergessen nicht.

Erst die politische Intervention Preußens führte zu seiner Freilassung 1787. Seine mit Angriffen gespickte Publikationstätigkeit setzte er nach der Haftentlassung in der Vaterländischen Chronik fort. Zugleich aber wurde er in Stuttgar zum Hoftheaterdirektor und Hofdichter ernannt - und schrieb in dieser Funktion Huldigungsgedichte auf Herzog Karl Eugen. Schubart starb 1791 in Stuttgart.

Aus der Bibliotheca Augustana: http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/18Jh/Schubart/sch_intr.html

Frank Suppanz charakterisiert den Revoluzzer in einem Essay für Reclam so:
“Vielseitig begabt, impulsiv, rücksichtslos, freiheitsliebend, Wein, Weib und Gesang intensiv zugetan und vor deftigster Sprache nicht zurückschreckend - als eine Art Prototyp des Kraftgenies der Sturm- und Drang-Zeit lässt sich der am 24. März 1739 im württembergischen Obersontheim Geborene beschreiben. (…). Es wäre zu einseitig, in Schubart nur den literarischen Polemiker zu sehen. Er war ein hochbegabter Klavierspieler und Organist; sein Talent verhalf dem vormaligen Hilfsprediger und Lehrer zu Anstellungen und verschaffte ihm weithin Anerkennung. Die Musik schien differenziertere Seiten in Schubarts Charakter zum Vorschein zu bringen. In seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst argumentiert ein Vollblutmusiker mit klassizistischen Normen - für Angemessenheit als Maßstab des musikalischen Ausdrucks und für feine Nuancierung als Voraussetzung eines schönen Vortrags.”

Aus den “Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst”:
“Wer ein gefühlvolles Herz hat, wer den Dichter und Musiker nachzuempfinden weiß, wen der Strom des Gesangs selbst mit fortwälzt, wer die himmlische Schöneit in den Stunden der Weihe unverschleiert sah, der bedarf nur Winke - und er wird schön singen, wird jedes Stück schön vorzutragen wissen.”

So wie nachfolgend Elisabeth Grümmer in einer Version von “Die Forelle”, eines der bekanntesten Lieder von Franz Schubert, dessen Text Schubart zwischen 1777 und 1783 während seiner Gefangenschaft schrieb - die Forelle steht für sein eigenes Schicksal. Das Gedicht erschien erstmals 1783 im Schwäbischen Musen-Almanach.

Die Forelle

In einem Bächlein helle,
Da schoß in froher Eil
Die launische Forelle
Vorüber, wie ein Pfeil:
Ich stand an dem Gestade
Und sah in süsser Ruh
Des muntern Fisches Bade
Im klaren Bächlein zu.

Ein Fischer mit der Ruthe
Wol an dem Ufer stand,
Und sah’s mit kaltem Blute,
Wie sich das Fischlein wand.
So lang dem Wasser Helle,
So dacht’ ich, nicht gebricht,
So fängt er die Forelle
Mit seiner Angel nicht.

Doch endlich ward dem Diebe
Die Zeit zu lang; er macht
Das Bächlein tückisch trübe:
Und eh’ ich es gedacht,
So zuckte seine Ruthe;
Das Fischlein zappelt dran;
Und ich, mit regem Blute,
Sah die Betrogne an.

Ihr, die ihr noch am Quelle
Der sichern Jugend weilt,
Denkt doch an die Forelle;
Seht ihr Gefahr, so eilt!
Meist fehlt ihr nur aus Mangel
Der Klugheit; Mädchen, seht
Verführer mit der Angel –
Sonst blutet ihr zu spät.

TRIO 15: Rosen von Morgenstern, Hofmannsthal und Goethe für die Knef.

Rosenresli. Rosenkavalier. Auf Rosen gebettet. Schenkt man sich Rosen in Tirol. Für mich soll`s rote Rosen regnen!

Diese Rose von heimlichen Küssen schwer:
Sieh, das ist unsre Liebe.
Unsre Hände reichen sie hin und her,
unsre Lippen bedecken sie mehr und mehr
mit Worten und Küssen sehnsuchtsschwer,
unsre Seelen grüßen sich hin und her -
wie über ein Meer - - wie über ein Meer - - -
Diese Rose vom Duft unsrer Seelen schwer:
sieh, das ist unsre Liebe.

Christian Morgenstern

Die Rose und der Schreibtisch

Ich weiß, daß Blumen nie von selbst aus offnen Fenstern fallen. Namentlich nicht bei Nacht. Aber darum handelt es sich nicht. Kurz, die rote Rose lag plötzlich vor meinen schwarzen Lackschuhen auf dem weißen Schnee der Straße. Sie war sehr dunkel, wie Samt, noch schlank, nicht aufgeblättert, und vor Kälte ganz ohne Duft. Ich nahm sie mit, stellte sie in eine ganz kleine japanische Vase auf meinem Schreibtisch und legte mich schlafen.

Nach kurzer Zeit muß ich aufgewacht sein. Im Zimmer lag dämmernde Helle, nicht vom Mond, aber vom Sternlicht. Ich fühlte beim Atmen den Duft der erwärmten Rose herschweben und hörte leises Reden. Es war die Porzellanrose des alt-wiener Tintenzeuges, die über irgend etwas Bemerkungen machte. ‘Er hat absolut kein Stilgefühl mehr’, sagte sie, ‘keine Spur von Geschmack’. Damit meinte sie mich. ‘Sonst hätte er unmöglich so etwas neben mich stellen können.” Damit meinte sie die lebendige Rose.

Hugo von Hofmannsthal

“In der Hoffnung, meine Liebe heute bei mir zu sehen,
fang ich den Tag an, schicke ihr eine schöne Rose und wünsche,
daß ihr meine Neigung immer so schön vorkommen möge,
als diese Blume aussieht”.

Johann Wolfgang von Goethe am 17. März 1782 in einem Brief an Charlotte von Stein

Julio Cortázar: Der Verfolger (1958).

„Ich verstehe, dass ihn der Gedanke Amorous könnte vor die Öffentlichkeit gebracht werden, in Harnisch bringt, denn jeder merkt die Fehler, das deutlich hörbare Blasen am Ende einiger Phrasen, und vor allem diesen wilden Sturz am Schluß, diesen dumpfen, kurzen Ton, der mir vorkam wie ein brechendes Herz, wie ein Messer, das in ein Brot eindringt (er sprach vor einigen Tagen von dem Brot). Dagegen würde Johnny entgehen, was wir schrecklich schön finden, die Beklemmung, der Stau, der in dieser Improvisation einen Ausweg sucht, voller Ausbrüche in alle Richtungen, voller Fragen, voller verzweifelter Gestik. Johnny kann nicht verstehen (denn das, was er für mißlungen hält, scheint uns ein Weg zu sein, wenigstens die Andeutung eines Weges), dass Amorous einer der größten Augenblicke in der Geschichte des Jazz bleiben wird.“

Julio Cortázar, „Der Verfolger“

Was Charlie Parker in der Musik für den Jazz tat, das gelang dem Argentinier Julio Cortázar in der Literatur. Er schrieb Musik, Jazzmusik, er revolutionierte mit seinen Werken auch das Schreiben und die südamerikanische Literatur, griff den Stil des anderen surrealistischen Erzählers seines Heimatlandes, Borges, auf, interpretierte weiter, ging darüber hinaus. Und dies nicht nur in der Erzählung „Der Verfolger“, die 1958 in der Anthologie „Die geheimen Waffen“ erschien und die Geschichte des Jazzmusikers Charlie Parker erzählt.

Für Cortázar (1914 bis 1984) war der Tango die Musik für das Leben, der Jazz die Musik für die Literatur, auf einen etwas verkürzten Nenner gebracht. Der Jazzkenner, Autor und Journalist Hans-Jürgen Schaal bringt die musikalisch-literarische Welt Cortázars so auf den Punkt:

“In den Texten von Julio Cortázar ist der Jazz ein notwendiges (fantastisches, absurdes) Korrektiv der Realität. Es ist der Jazz, der vorübergehend die bestehende Ordnung der Dinge aufzuheben vermag. Der ein Thema “bekämpft und verwandelt und schillern lässt”. Der die Menschen daran erinnert, “dass es vielleicht andere Wege gibt und dass derjenige, den sie eingeschlagen haben, nicht der einzige und nicht der beste ist.” Jazz: eine Rettung ins Offene. Eine Einübung in die Freiheit.

Das 17. Kapitel in Cortázars 600-Seiten-Schmöker “Rayuela”, einem der erfolgreichsten Romane Lateinamerikas, enthält die vielleicht schönste Eloge, die dem Jazz je gewidmet wurde. Sie feiert ihn als eine universelle Botschaft, die “die Menschen besser und schneller einander näher brachte als Esperanto, die UNESCO oder die Fluglinien”, eine menschliche Musik, die Antlitz und Bewusstsein besitzt, die Stile und Haltungen, Dogmen und Schismen schuf, die ein Teil und ein Spiegel ist der humanen Geistesgeschichte. “Rayuela” – der spanische Name für das Himmel-und-Hölle-Spiel – ist ein verspäteter Beat-Roman, gefärbt von Pariser Existenzialismus, argentinischer Bildungswut und Cortázars Lust am Absurden.”

Anders als „Rayuela“, das 1963 erschien, erscheint „Der Verfolger“ im Erzählstil noch konventionell. Die Novelle schildert die Geschichte von Johnny Carter (ganz offensichtlich der Saxophonist Charlie Parker) aus der Perspektive seines Biographen. Deutlich wird: Die Person, der Mensch, der hinter diesem außerordentlichen Talent steckt, ist ein zerrissener, von Begierden getriebener, wankelmütiger, wenig sympathischer Charakter. Und doch bringt er ganz große Kunst hervor. Zu beobachten ist für den Biographen der Niedergang im Sumpf des Rausches und der Drogen – wobei die Rauschhaftigkeit des Lebens die Bedingung zu sein scheint, um solche Töne zustande zu bringen. Und beinah distanziert wird die Frage aufgeworfen, was mehr zählt: Der Mensch oder die absolute Kunst, die Kunstfertigkeit in der Musik.

„Ich beschloß, in der zweiten Auflage des Buches nichts zu ändern und Johnny weiterhin so zu präsentieren, wie ich ihn dargestellt hatte und wie er im Grunde war: ein armer Teufel von kaum durchschnittlicher Intelligenz, der wie so viele Musiker, Schachspieler und Dichter die Gabe besitzt, große Dinge zu schaffen, ohne sich der Größe seines Werks im geringsten bewußt zu sein (höchstens besitzt er den Stolz eines Boxers, der sich stark weiß).“

Roger Willemsen spendete der Erzählung in einer Kritik in der Süddeutschen Zeitung Applaus: Sie sei ein leidenschaftliches, mitreißendes, virtuoses “Solo für einen Besessenen”. So ist es – wer vor der Lektüre noch keine Musik von „Birdie“ gehört hat, wird spätestens dann das Verlangen haben, Bebop zu hören, jene Stilrichtung, die Parker prägte.

„Der Verfolger“ ist in Worte gefasste Musik, ist Jazz auf dem Papier.

Charlie „Bird“ Parker (1920-1955) gilt als einer der wichtigsten Jazzmusiker, gleichrangig neben Louis Armstrong und Miles Davis. Seit seiner Jugend heroinabhängig, starb er, nach einem von vielen Abstürzen und persönlichen Dramen geprägten Leben, an den Folgen seiner Sucht.

Julio Cortázar, (1914-1984), in Brüssel geboren, verbringt seine Jugend in Argentinien, lässt sich aber 1951 aus Protest gegen das Perón-Regime, unter dem er auch kurzfristig verhaftet worden war, in Paris nieder, wo er 1984 stirbt. „Rayuela“ ein surreales, kreatives Romanexperiment, ist trotz seines hohen Anspruchs eines der meistverkauften (und hoffentlich auch meistgelesenen) Bücher Südamerikas.

Margriet de Moor: Mélodie d`amour (2014).

„So fuhren sie durch die still gewordene Stadt in der Nacht nach Hause zurück. Gustaaf mit einer Hand lenkend. Atie von Zeit zu Zeit seufzend, als wäre ihr klar, das ein Tag, ein Tag voller Glück, im All fehlte. Ausgelöscht, bei näherer Betrachtung, von irgendeiner Instanz mit langem, weitreichendem Arm.
Schlichtweg nicht dagewesen.“

Moll in allen Variationen ist der Grundton dieses Buches: Ein lang verheiratetes Ehepaar, Eltern von vier Söhnen, erlebt einen glücklichen Abend zu zweit, trotz einiger Irrungen und Wirrungen zuvor, inklusive einer Ménage à trois mit Folgen, wieder glücklich vereint. Doch Atie, Gustaafs große Liebe, verliert an diesem Abend ihr Gedächtnis, später die Beherrschung über ihre Körperkraft, über ihre Körperfunktionen, lebt einem langsamen Tod entgegen. Gustaaf wird sie verlieren.

Ein Verlust, der in den Feuilletons bislang als Folge dieses Seitensprungs interpretiert wird. Ich sehe dies anders: Für mich beschließt Atie, trotz der Kränkung, trotz ihrer Wut und Verzweiflung, eine Trennung aus der Liebe heraus - wohl wissend, wie sehr ihre Krankheit alles verändern würde, auch die letzten Jahre. Aber diese Illusion möchte ich mir gern beibehalten – denn ansonsten ist in diesem Liebesreigen wenig zu finden, was Glück und Seligkeit verspricht.

Margriet de Moor hat zwei Grundthemen: Die Liebe und die Musik. Ersteres wird sie selbst erfahren haben, zweites hat sie studiert – Gesang und Klavier an der Königlichen Akademie in Den Haag. In ihrem jüngsten Buch ist jedoch noch ein dritter Leitfaden zu finden: Der Tod. Die Liebe, der Tod und die Musik.

„Mélodie d`amour“ – leider ein etwas verkitschter Titel für ein stilistisch wunderbares Buch mit einer einfühlsamen, teilweise zarten, bittersüßen Sprache, das kunstvoll arrangiert ist: Wie eine Sinfonie in vier Sätzen. Es ist kein Roman, wie oftmals geschrieben wird, sondern es sind vier mit einander verknüpfte, doch in sich eigenständige Erzählungen, in denen die Grundtonart variiert wird. Und die ist dunkelmoll…

Im ersten, dem sogenannten Kopfsatz, wird – und zwar nur hier – aus der Perspektive des Mannes erzählt, Gustaaf, der seine Liebe verliert - zuerst an das Leben, dann an den Tod. Doch das Gespräch mit ihr endet damit nicht:

„Wie gut, dass wir hier geblieben sind. Du mochtest es immer, morgens durch das Schlafzimmerfenster den Schiffen zuzuschauen. Du liebtest es auch, am Strand spazierenzugehen und in die Bunker des Atlantikwalls hinunterzusteigen. Ich denke an die simpelsten Dinge, das Brot in deiner Hand, deine Röcke, deine Blusen. Du weißt, dass ich nicht metaphysisch veranlagt bin. Trotzdem würde ich gern wissen, was du mir gerade, kaum tot, fast noch lebend, so lieb, heimlich jenseits der Grenze hast zufunken wollen.“

Die weiteren drei Sätze dieser Liebesmelodie sind aus dem Blickwinkel von Frauen geschrieben – drei Frauen, die im Leben von Gustaafs jüngstem Sohn, dem sensiblen Luuk mit der engen Mutterbindung eine Rolle spielen: Cindy, die neurotische, obsessive Geliebte, die zur Stalkerin wird, die den Geliebten eher tot denn in den Armen einer anderen sehen will.

„Kinder, habe ich am Freitag darauf gefragt, was wiegt eurer Meinung nach schwerer, der Tod oder das Glück? Darauf gab es einiges Gemurmel und Geflüster. Ein paar Finger gingen hoch.
Der Tod.
Okay. Ich nickte und nahm einen anderen dran.
Der Tod.

Keines meiner Kinder hatte sich über meine Frage gewundert. Die kann man Dreizehnjährigen ohne weiteres stellen. Die Literatur arbeitet so viel adäquater als die Wissenschaft! Schneller, und wesentlich einleuchtender. Die Jungen und die Mädchen gaben denn auch alle de richtige Antwort. Wussten sehr gut, sowohl im philosophischen als auch im physikalischen Sinn, was es mit Schwere und Leichtigkeit auf sich hat.“

Da ist Roselynde, die zweite Geliebte, die an ihrer Jugendschuld trägt – dem tödlichen Unfall der Freundin ihres Bruders, aus Eifersucht verschuldet, der Tod ihres Bruders, der tatsächlich an gebrochenem Herzen stirbt. Ein Satz, beinahe ein Scherzo:

„Jetzt folgt leise, sogar ein wenig verlegen, seine fast tägliche Floskel: Ich ruf nur schnell an, um dir guten Morgen zu wünschen.
Und ich halte, von meiner Überraschung noch nicht erholt, meine derzeitige Lebenssituation fest. Es gibt einen Mann, der immer an mich denkt. Es gibt einen Mann, der seine Liebe zu mir als unverrückbaren Teil der Wirklichkeit betrachtet, wie beispielsweise geboren zu werden, offenkundig.“

Und es gibt in diesem Satz die leise Hoffnung, dass die Liebe mit allen ihren Komplikationen dazu geeignet ist, alte Wunden zu heilen, im kleinen Tod das tatsächliche Sterben zu überwinden, dass sie alles gut machen kann. So endet dieser Satz denn auch beinahe tröstlich:

Hoch über meinem Kopf machen sich die Schwalben in den Süden auf, obwohl sie bereits wissen: Wir kommen zurück, wir sind uns ganz sicher. Stimmt es, dass man sich vor allem in dem sicher ist, was das Verständnis übersteigt? Es ist ein altmodisch goldener Tag. Ich habe größte Lust, dir einen Liebesbrief zu schreiben oder, noch lieber, ein durch den Äther fliegendes Telegramm wie in früheren Zeiten.
KÜSSE DICH INNIG STOP LIEBE DICH STOP KÜSSE DICH NOCH MAL STOP HABE DIR ALLES ERZÄHLT STOP ROSELYNDE

Und dann zum Ende der Sinfonie werden die Leitfäden wiederaufgenommen, wiederholt, in Person der Ehefrau Myrte, der für mich rätselhaftesten Frauen in Luuks Welt – die, die sich mit den Geliebten arrangiert, die selbst noch nach Jahrzehnten in die unausgelebte Liebe zu einem wesentlich älteren Mann innerlich verstrickt ist, die scheinbar alles und jeden auf Distanz hält und dennoch in unverbrüchlicher Treue an ihren Menschen bleibt. Das Bild von ihr bleibt nach meinem Empfinden unentwickelt:

„Bin ich, soweit ich konnte, mit ihm gegangen in jener Nacht? Habe ich seinen letzten Blick gesucht, seine Hand in meiner gehalten? Mein Herz, meine Seele und die Wahrscheinlichkeit sagen, ja, meine Erinnerungen schweigen. Neben dem Bad mit dem Entwickler fehlte das Fixierbad. Was ich noch immer weiß, ist, dass ich sehr früh am Morgen sah, dass aus den drei Linien Striche geworden waren.“

Was also ist die „Mélodie d`amour“? Margriet de Moor erklärt nicht, interpretiert nicht, sie erzählt „nur“. Das aber streckenweise zum Weinen schön. Und dennoch – in einhelliger Verzückung pries das Feuilleton bislang diesen Liebesreigen als eines, wenn nicht gar zum Besten ihrer bisherigen Bücher. Ich blieb nach dem Lesen im Zweifel zurück – dass die Liebe in ihren Auswirkungen Verheerendes anrichten kann, dass in diesen Verstrickungen wenig bis gar nichts rational zu erklären ist, dass oft selbst die Beteiligten nicht wissen, warum sie wann auf wenn fällt und in welcher Form ereilt, das scheint bekannt. Doch manches in den vier Teilstücken bleibt zu lose, zu wenig nachvollziehbar, zu unvermittelt für meinen Geschmack. Und: Immer sind es die ganz großen Gefühle, die mit ganz großer Traurigkeit und Schuld bei den Protagonisten einhergehen. Einfach nur lieben, gelingt ihnen nicht. Einfach lieben scheint das Meisterstück zu sein, das außer Reichweite ist. Aber eine einfache Liebe ist wohl eben auch kein Stoff für die Literatur.

Fazit: Wunderschön zu lesen, aber nur dann, wenn man gewappnet ist, einer dunkeln, schweren Sinfonie zu lauschen.

Margriet de Moor, „Mélodie d`amour“, Fester Einband, 384 Seiten, Preis: 21,90 € (D) / UVP 29,90 sFR (CH) / 22,60 € (A), ISBN 978-3-446-24478-8, Hanser Verlag

William Shakespeare - Sonett 18

Sonnet 18

Shall I compare thee to a summer’s day?
Thou art more lovely and more temperate;
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer’s lease hath all too short a date;
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimm’d;
And every fair from fair sometime declines,
By chance or nature’s changing course untrimm’d;
But thy eternal summer shall not fade,
Nor lose possession of that fair thou ow’st;
Nor shall Death brag thou wander’st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow’st:
So long as men can breathe or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

William Shakespeare

Wenn sich Tilmann von 54books nicht gerade in Hamburger Verlagshäusern aufhält (hier klingt durchaus leichter Neid durch), dann stellt er auch einmal ganz unterschiedliche Übersetzungen Shakespear`scher Sonette zusammen:
http://www.54books.de/sonett/. Und kommt mir damit um Monate zuvor.

Weitere Varianten des Sonetts 18 sind hier zu finden:
http://www.deutsche-liebeslyrik.de/europaische_liebeslyrik/shakespeare/shakespeare_18.htm.

Und, weil er so schön den Schmacht in der Stimme hat, hier die Interpretation von Brian Ferry:

Bruce Chatwin: Traumpfade (1987).

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Bild: Colleen Wallace Nungari

Sie hatte nie linguistische Studien betrieben. Doch ihre Arbeit an dem Wörterbuch hatte ihr Interesse für den Mythos von Babel geweckt. Warum hatte es zweihundert Sprachen in Australien gegeben, wenn das Leben der Aborigines so gleichförmig gewesen war? Ließ sich das wirklich mit dem Stammessystem oder der Isolation erklären? Bestimmt nicht! Sie begann sich zu fragen, ob die Sprache selbst nicht vielleicht mit der Verbreitung verschiedener Spezies über das Land zusammenhing.
„Manchmal“, sagte sie, „bitte ich Old Alex, eine Pflanze zu benennen, und dann antwortet er: „Kein Name“, was bedeutet: „Die Pflanze wächst nicht in meinem Land.“
Dann suchte sie einen Informanten, der als Kind dort gelebt hatte, wo die Pflanze wuchs – und fand heraus, dass sie doch einen Namen hatte.
Das „trockene Herz“ Australiens, sagte sie, sei ein Puzzle aus Mikroklimata, verschiedenen Bodenmineralien und verschiedenen Pflanzen und Tieren. Ein Mann, der in einem bestimmten Teil der Wüste aufgewachsen war, kannte dessen Flora und Fauna. Er wußte, welche Pflanze das Wild anlockte. Er kannte seine Wasserstellen. Er wußte, wo Knollen unter der Erde waren. Mit anderen Worten: indem er alle Dinge in seinem Territorium benannte, konnte er immer damit rechnen, zu überleben.
„Aber wenn man ihn mit verbundenen Augen in ein anderes Gebiet führt“, sagte sie, „könnte es passieren, dass er sich verirrt und verhungert.“
„Weil er die Orientierung verloren hat?“
„Ja.“
„Sie glauben, dass der Mensch sein Territorium macht, indem er die Dinge darin benennt?“
„Genauso ist es!“ Ihr Gesicht leuchtete auf.
„Die Grundlage für eine universelle Sprache kann es also nie gegeben haben?“
„Genau! Ganz genau!“

Wendy sagte, auch heute noch würde eine Aborigine-Mutter, wenn sie bei ihrem Kind die ersten Sprechversuche bemerke, ihm die Dinge des jeweiligen Landes in die Hand geben: Blätter, Früchte, Insekten und so weiter.
Das Kind an der Brust seiner Mutter wird mit dem Ding spielen, zu ihm sprechen, seine Zähne an ihm erproben, seinen Namen wiederholen – und es schließlich wegschieben.

„Wir geben unseren Kindern Gewehre und Computerspiele“, sagte Wendy. „Sie geben ihren Kindern das Land.“

Bruce Chatwin, „Traumpfade“.

Schon vor einigen Jahren habe ich die „Traumpfade“ von Bruce Chatwin das erste Mal zur Hand genommen. Ich versuchte, die Reise durch das Innere Australiens mit dem Kopf zu nachzuvollziehen. Beim Lesen reisen. Ich wollte die Logik der „songlines“ und „walkabouts“ verstehen.
Ich meinte, den Weg mit meinem Kompass erschließen zu können. Mystik und Spiritualität sind auf diesem Kompass nicht allzu großgeschrieben.

So blieb mir die Erzählung fremd. Die Traumpfade haben sich mir nicht erschlossen.

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Dieser Tage habe ich mich wieder auf die Reise mit Bruce Chatwin gemacht.  Es ist ein anderes Lesen als vor zehn Jahren. Nicht, dass ich die Magie der Lieder jetzt besser verstünde. Ein Buch allein kann nicht der Schlüssel zu einer anderen Kultur sein. Zumal die Kultur der Aborigines Zonen hat, die von anderen nicht einmal betreten werden sollen.

Aber, frei nach Kafka: Ein Buch kann die Axt sein, für andere Dinge, die festgefroren sind in uns. Das gefrorene Meer in mir, meine kleine Eisscholle, das war der Anspruch, Dinge mit meiner Logik, die natürlich geprägt ist von meiner Herkunft, meiner Gesellschaftsform, meinem Kulturkreis, meiner Prägung, usw., erfassen zu müssen und zu können.

Vielleicht ist dies mein Schlüssel, der mir dieses Buch jetzt erst öffnet: Ich akzeptiere, dass ich nicht alles verstehen können muss. Ich verstehe, dass es Zonen der Kultur, des Denkens, des Lebens gibt, die ich nicht betreten kann. Ich nehme das Anderssein der Anderen an. Wenigstens in der Literatur. Und plötzlich kann ich dieses Buch lesen.

Auch wenn das Verstehen nicht gegeben ist, so kann es doch Verständnis und eine Art Verständigung geben. Dies ist es, was ich aus der Reise mit Chatwin schöpfe.

Die Sprache ist eine Sache der Logik. Sie ermöglicht eine Verständigung zwischen zwei verschieden logisch strukturieren Systemen nicht. Die Musik ist eine Sprache der Intuition. Sie macht Verständnis möglich, wo das Sprechen versagt.

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Mit einer songline beschreiben die Aborigines die australische Landkarte. Die Lieder werden an die Nachkommen weitergegeben. Sie umreißen das Land, seine Mythen und heiligen Stätten. Und auch, wenn die Dialekte und Sprachen am anderen Ende des Kontinents für einen anderen Ureinwohner des Kontinents unverständlich sein mögen – dort wo die Worte ihre Grenzen haben, spricht das Lied, die Melodie zu ihnen. Man muss nicht sprechen, um richtig zuhören zu können. Und es gibt eine Sprache, die jeder verstehen kann, wenn die Intuition noch nicht ganz im Zivilisationsmüll verloren ist. Es ist die Sprache der Musik.

Wir können noch so viel sagen, und verstehen einander nicht. Aber die Musik kann manchmal eine Sprache sein, die die Axt ist, die das Eismeer zwischen uns zerschlägt.

Das Leben jedes Menschen hat eine Grundmelodie. Wir haben unsere eigenen songlines. Wir haben auch unsere Traumpfade. Für Bruce Chatwin war die Melodie des Lebens das Reisen. „Traumpfade“, ein Klassiker der modernen Reiseliteratur, ist das Buch, mit dem er weltberühmt wurde und einen „Australien“-Boom auslöste. 1982 landete Chatwin in Sidney und begab sich auf seine persönliche Odyssee. Auch er mit dem Anspruch, zu verstehen, wie eine songline funktioniert. Letztendlich schreibt er jedoch ein Buch, das mehr von der Rastlosigkeit des ewig Reisenden und Suchenden handelt. „Traumpfade“ erschien 1987 unter dem Titel „The Songlines“ in der englischen Originalausgabe. Einer der wenigen Fälle, da es die deutsche Übersetzung besser trifft: Am Anfang ist zwar die Suche nach dem Lied. Aber das Buch handelt vom Traum des nichtsesshaften, nicht an Besitz gebundenen, nicht unterdrückten Menschen. Es handelt auch vom Traum von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

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Die chronologische, reportagenhafte Erzählung wird unterbrochen von zahlreichen Notizen, Zitaten weiterer Reisender, Anekdoten von anderen Trips Chatwins, Einschüben und Textsprengseln. Es ist ein intuitives Erzählen, das auch das gedankliche Sprunghafte und die Ruhelosigkeit des Autors, des Reisenden, der zahllose Eindrücke aufnimmt, spiegelt. Die Beschreibungen der Weite des Kontinents, der überwältigenden Landschaft, aber auch die Szenen in Bars und in den „Reservaten“, sind großartig. Chatwin zeigt die Arroganz und den Rassenhass der Weißen, die Beschränktheit der Missionare und ihrer modernen Nachfolger, der Sozialarbeiter, beschreibt die Armut und Resignation der Ureinwohner packend, schildert aber auch eindrückliche menschliche Begegnungen. Zuweilen auch amüsant – beispielsweise die Szene, in der eine Ladenbesitzerin geschickt einem naiven amerikanischen Ehepaar „Traumbilder“ verkauft – jene Kunst der Aborigines, ihre Sagen, Mythen und Träume auf Leinwand zu bannen (siehe Bilder).

Chatwin blieb wenig Zeit zu schreiben: Der 1940 in Sheffield geborene Schriftsteller starb bereits 1989. In der kurzen Lebensspanne, die ihm vergönnt war, schrieb er etliche Reiseberichte und Romane über das Reisen – „Traumpfade“ ist letztendlich mehr traumwandlerischer Roman denn Sachbuch. Das Buch blieb später nicht unumstritten (siehe dieser Artikel in der Zeit: http://www.zeit.de/2000/21/200021.chatwin_.xml).

Dem Schriftsteller historische Ungenauigkeit und mangelndes Kulturverständnis, insbesondere bei den Traumpfaden, vorzuwerfen, halte ich für merkwürdig. Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman. Und kein Tatsachenbericht. Im Roman sind die Träume frei.

Und was bedeutet mangelndes Kulturverständnis? Wir können uns bemühen, zu verstehen. Wir können uns öffnen. Aber keiner kann wohl seine eigene songline verlassen. Chatwin beschreibt, was er sieht, er beschreibt, was ist, er beschreibt, wie es bei ihm ankommt.

Natürlich bleibt der Vorwurf bestehen, er habe die geheimsten Riten benutzt, veräußert, veröffentlicht. Träume soll man nicht stehlen. Aber teilen sollte man sie dürfen.