#MeinKlassiker (5): Gerhard fliegt über das Kuckucksnest

p1050236Den meisten Autorinnen und Autoren dieser Reihe habe ich freie Hand gelassen bei der Auswahl ihrer Bücher - geht es doch um ihren persönlichen Klassiker. Bei Gerhard Emmer, der hauptsächlich über Musik bloggt, öfter aber auch Bücher seiner Wahl vorstellt - immer abseits des Mainstreams, oft amerikanische Kultliteratur - habe ich einen konkreten Wunsch geäußert: Weil dieses Buch auch für mich so eine Art Erweckungserlebnis war. Danke, Gerhard!

Die Birgit meinte, das „Kuckucksnest“  von Ken Kesey hätte sie gern in ihrer Klassiker-Reihe (tolle Serie übrigens, eh klar, Hamlet zum Einstieg, sehr schön), spart mir natürlich einen Haufen Zeit, hab ich erst gelesen und meinen Senf dazu abgegeben, guckst Du hier:
https://gerhardemmerkunst.wordpress.com/2016/04/21/reingelesen-43/

Sonst wär halt was Feines von Thomas Mann, Nelson Algren, Dostojewski oder Garcia Marquez zur Revision angestanden, aber das hätte dann erst nochmal gelesen gehört, um aus heutiger Sicht was Fundiertes (oder eben auch nicht) dazu abzusondern. Genug der Vorrede, hier ein paar Gedanken zu „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Ken Kesey:

Das 1951 veröffentlichte Werk „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger zählt zu den ersten literarischen Werken der amerikanischen Gegenkultur, die in Romanen von Jack Kerouac und William S. Burroughs und Gedichten von Allen Ginsberg ihre ganze Konventionen-sprengende Wucht entfaltete, Ken Kesey darf hier als wichtiger Vertreter nicht unerwähnt bleiben, zumal sein Erstwerk aus dem Jahr 1962 – zu Recht - ein Welterfolg wurde und Kesey zudem mit der Musikszene der amerikanischen Hippie-Kultur schwer verbandelt war, ein nicht unwesentlicher Aspekt für einen Musik-Blogger und Grateful-Dead-Freund wie mich.

Anders als der „Fänger“ von Salinger, in dem bereits zentrale Themen der Subkultur wie Aufbegehren gegen die Erwachsenen-Welt und massives Infragestellen von Regeln ausführlichst zur Sprache kommen, ist Ken Kesey und insbesondere sein Hauptwerk „Einer flog über das Kuckucksnest“ nach wie vor für alle Generationen relevant und vor allem konsumierbar, das Salinger-Kultbuch hingegen funktioniert als literarischer Fixpunkt, Manifest der individuellen Wut, Anregung und Reflexion ausschließlich in der Adoleszenz (zumindest in meiner längst vergangenen), im fortgeschrittenen Alter bleibt da wenig, was einen an jugendlicher Rebellion noch berühren mag, der Zahn der Zeit halt, der so manchen Stachel stumpf machte, es ist ein Graus…

Kesey mit dem „Kuckucksnest“ hingegen: Für mich nach wie vor ein Plädoyer für die Entfaltung des Individuums, eine permanente Aufforderung zur Schärfung der Sinne und vor allem zum Anzweifeln der tradierten, eingeschliffenen, im extremsten Fall sinnlosen Regeln, eine Metapher für das Aufbegehren gegen Despotismus, Unterdrückung und – einige Nummern kleiner -  den alltäglichen Regelbetrieb.

Der irisch-stämmige Rebell McMurphy mit dem gesunden Menschenverstand findet sich mal mehr, mal weniger extrem mit seinen charakterlichen Eigenschaften, seiner Lebensphilosophie und seinem Handeln  - oder kurz seinem „Mindset“, um mal wieder die unsäglichen, eingeschlichenen Anglizismen zu bemühen -  fortwährend aktuell und täglich dokumentiert in den Nachrichten in Presse, Internetz, Funk und Fernsehen, exemplarisch bei Snowden versus NSA, bei der journalistischen Verteidigung der türkischen Republik der  Cumhuriyet-Redakteure  gegen die Erdoğan-Repression oder den Pussy-Riot-Aktionen gegen den Putin-Staat.

Der Roman hat in seiner für Autoren der Beat Generation geradezu konventionellen Erzählweise auch heutzutage nichts an Lesbarkeit verloren, mit der psychedelisch-experimentellen Schilderung von Psychopharmaka-Wirkungen bietet er daneben einen zusätzlichen literarisch-stilistischen Nebenstrang.

Es existieren zwei deutsche Übersetzungen von Carl Weissner bzw. Hans Hermann, beide sind auch heute noch uneingeschränkt zu empfehlen, Feingeister und Zartbesaitete nehmen Hermann, wer’s direkter und wahrscheinlich mehr im Sinne des Originals mag, nimmt Weissner. Und die Verfilmung des Romans von Miloš Forman kennt vermutlich sowieso jeder/r, ansonsten: schnell nachholen. Unerwähnt soll auch nicht bleiben, dass von Ken Kesey im Nachgang zum „Kuckucksnest“ in den achtziger Jahren ein zweiter Roman ins Deutsche übersetzt wurde, „Manchmal ein großes Verlangen“ (1964), eine exzellente, opulente Familien-Saga über eine Holzfäller-Dynastie in Oregon, den hab ich im Gegensatz zu seinem Welterfolg leider bisher nur einmal gelesen, wäre längst nochmal fällig, sozusagen ein heimlicher Klassiker, vielleicht auch mal was für die Vorstellungsrunde hier…

Gerhard Emmer
https://gerhardemmerkunst.wordpress.com/

Verfasst von

Das Literaturblog Sätze&Schätze gibt es seit 2013. Gegründet aus dem Impuls heraus, über Literatur und Bücher zu schreiben und mit anderen zu diskutieren.

12 thoughts on “#MeinKlassiker (5): Gerhard fliegt über das Kuckucksnest

    1. Ich kann hier jetzt nur für mich, natürlich nicht für Gerhard sprechen - aber mir ging es vor einigen Jahren beim Wiederlesen von Salingers Fänger ähnlich, das Buch gab mir nicht mehr so viel. Seine Erzählungen fand ich - in meinem gesetzten Alter🙂 - ansprechender. Was aber nicht heißt, dass ich nicht mehr rebellisch bin🙂

      Gefällt 1 Person

  1. Juhu - noch ein Klassiker den ich kenne und sehr sehr mag. Ich mochte auch die Verfilmung mit Jack Nicholson sehr. Gerade im Regal geguckt musste aber enttäuscht feststellen, es hat sich aus dem Staub gemacht. Na ja, das läuft mir sicher irgendwann noch mal über den Weg und dann wird es auch Zeit zum wieder-lesen. Tolle Besprechung. Ich grüße lieb und freue mich aufs nächste Treffen von uns Dreien🙂

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  2. Sehr lesenswertes Buch. Eines der wenigen Beispiele übrigens auch für eine brillante Verfilmung, die glücklicherweise aber sehr anders ist als das Buch. Somit können beide unbeschadet nebeneinander stehen und geliebt werden.
    Als ich das Buch vor einigen Jahren las, fielen mir einige schwerwiegende Mängel auf, ich erinnere mich aber natürlich nicht mehr genau, stilistischer Natur jedenfalls, gleichwohl besitzt es mindestens ebenso nach oben herausragende Stärken.
    Wer also den Film bereits kennt (und den sollte man in der Tat sehen, er ist einfach herrlich), lässt sich besser nicht durch den Gedanken, er kenne die Geschichte ja bereits, von der Lektüre des Buches ablenken: Beide sind eigenständige Werke, die Parallelen sind unverkennbar, aber sowohl sie als auch die Unterschiede bereichern die Lektüre lediglich, es verliert nichts an Spannung oder Vergnügen, wenn man die Verfilmung kennt.
    Ein teilweise stilistisch rohes Werk, leider habe ich das Buch gerade nicht zur Hand und kann darum nicht sagen, welche Übersetzung es war, inhaltlich und von der Konstruktion her aber sehr lesenswert. Außerdem kann es nur helfen, wenn man den Film bereits gesehen hat, so hat man direkt Bilder zu den einzelnen Figuren im Kopf. Kann man natürlich auch kritisch sehen – muss man aber nicht.

    Gefällt 1 Person

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