Joseph Roth: April. Die Geschichte einer Liebe

Joseph Roth spielt in dieser Erzählung stilistisch auf einer Klaviatur poetischer Bilder, neusachlicher Flapsigkeit und expressionistischem Ausdruck.

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„Manchmal wusste ich, dass Anna zärtlich sein könnte. Ich liebte die Frauen, deren Güte wie ein verschütteter Quell, unsichtbar fruchtlos, aber unermüdlich, jedesmal gegen die Oberfläche anströmt und, weil ein Ausweg nicht möglich, nach der Tiefe gedrängt, verborgene Schächte gräbt und gräbt bis zum Versiegen. Ich liebte Anna. Ich konnte ihren Reichtum nicht lassen. Sie wusste nicht, wieviel ihr verlorenging, wenn sie so daherschritt, rückwärts lebend, jede andere Sehnsucht ausschaltete und nur die nach Vergangenem trug und pflegte.“

Die erste der Erzählungen Joseph Roths, die herausragt aus den frühen Vorversuchen, ist für mich „April. Die Geschichte einer Liebe“, veröffentlicht 1925. Schon zuvor hatte Roth über Frauen geschrieben – einsame Frauen, alleinstehende Frauen, verlassene Frauen, Geliebte, Witwen, Mütter. Doch bei „April“, dieser einerseits zarten, poetischen Erzählung, andererseits aber auch desillusionierenden Liebesgeschichte, ist der Blick auf „die Frau“, aber auch auf die Zeitläufte, erstmals befreit von jugendlicher Rührseligkeit. Roth spielt in dieser Erzählung stilistisch auf einer Klaviatur poetischer Bilder, neusachlicher Flapsigkeit und expressionistischem Ausdruck – geprägt zwar auch von den literarischen Stilen seiner Zeit, ließ er sich dennoch nicht festlegen, zeigt vielmehr an dieser Erzählung, wie groß die Bandbreite seines Talentes ist.

Fast schon müßig zu betonen, dass die Liebe – beziehungsweise die Lieben - unglücklich verläuft in diesem „Intermezzo“.

Der Erzähler kommt in eine kleine Stadt, verliebt sich zunächst in Anna, Mutter eines unehelichen Kindes und dann in eine unbekannte Schöne, die am Fenster sitzt. Anna erzählt ihm, die Unbekannte sei todkrank. Der Erzähler beschließt, wieder abzureisen – am Bahnhof sieht er ein letztes Mal die scheinbar kranke Schöne, sie, das blühende Leben ist offensichtlich mit einem Mann verlobt, den er verabscheut. So oder so – die Liebe zu beiden Frauen wird durchlebt im rasenden Tempo, wird stark empfunden, bleibt aber doch nur ein Spiel auf Zeit.

Dies ist der äußere Rahmen, den Roth jedoch auch nutzt, um eine ganze kleine Stadt, eine kleine Welt lebendig werden zu lassen. Mit wenigen Strichen zeichnet er Miniaturen, lässt Typen und Charaktere auferstehen: Den windigen Kellner Ignaz, der lieber Politiker wäre, den würdigen Postdirektor, den vom Ehrgeiz zerfressenen Eisenbahnassistenten, der auch bei der Liebe (die er nicht empfinden kann) die rote Eisenbahnassistentenmütze im Blick behält. Der Erzähler ist ein assoziierender Flaneur:

„Ich pflanze meine Erlebnisse wie wildes Weinlaub und sehe zu, wie sie wachsen.“

Vor allem ist „April“ jedoch auch die Geschichte einer Liebe zu einer mystifizierten Unbekannten: In Gegensatz zu der Kleinstadt, in der sich der Erzähler nur auf Durchreise befindet, steht das glitzernde, schillernde New York.

„Manchmal träumte ich von einer großen Stadt, es war vielleicht New York. Ich atmete das Rasseltempo ihres Lebens, ihre Straßen rannten groß, breit, unaufhaltsam, mit Menschen, Fahrzeugen, Pflastersteinen, Laternenpfählen, Litfaßsäulen, ich weiß nicht, wohin und wozu. Die Stadt stand nicht, sondern lief. Nichts stand. Große Fabriken qualmten aus riesigen Schornsteinen den Himmel an. In sekundenkurzen Pausen hielt ich die Augen geschlossen, um die Melodien dieses Lebens zu hören. Es war eine greuliche Musik; sie klang so wie die Melodie eines verrückt gewordenen, ungeheuren Leierkastens, dessen Walzen durcheinandergeraten waren. Diese Musik aber reizte auf. Es war nur häßlicher, nicht falscher Rhythmus.“

Der Erzähler fühlt sich am Ende von diesem Rhythmus mitgezogen – er steigt in den Zug, lässt alles hinter sich, denn:

„Das Leben ist sehr wichtig!“ lachte ich. „Sehr wichtig!“ und fuhr nach New York.

Joseph Roth, oftmals als Mystiker und Mythomane bezeichnet, greift hier den Mythos der Großstadt, der vor allem durch die expressionistische Literatur geisterte, auf. Anklänge von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Dos Passos „Manhattan Transfer“, das wie „April“ 1925 erschien, sind zu spüren in dieser Erzählung. Synkopisch im Duktus, eine „Sinfonie der Großstadt“.

Für Roth, den in Galizien geborenen Juden, hat New York jedoch noch eine weitere Bedeutung, die über den Mythos der großstädtischen Moderne hinausgeht. Die Vereinigten Staaten waren vor allem für die verarmte jüdische Landbevölkerung aus Südosteuropa ein Fluchtpunkt, ein gelobtes Land, die Auswanderungswelle war enorm. Joseph Roth greift dieses Thema in seiner journalistischen Arbeit auf, unter anderem in seinem Essay „Juden auf Wanderschaft“.

Dieser 1927 veröffentlichte Aufsatz erschien 2012 in einer illustrierten Buchausgabe – siehe hier die Besprechung bei „Glanz&Elend“.

Eine ähnliche journalistische Arbeit findet sich auch im Werk der französischen Reporterlegende Albert Londres.

Ein weiteres Buch zum Thema: Ulla Kriebernegg, Gerald Lamprecht, Roberta Maierhofer, Andrea Strutz (Hrsg.): „Nach Amerika nämlich! Jüdische Migrationen in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert“, Wallstein Verlag.

„April. Die Geschichte einer Liebe“ kann beim Projekt Gutenberg gelesen werden.

35 comments on “Joseph Roth: April. Die Geschichte einer Liebe”

  1. Nach New York werde ich vielleicht nicht kommen, sehe es aber auch so, dass das Leben wichtig ist. Und das Lesen. Das Lesen von Joseph Roth scheinbar auch. Zumindest interessant.

    Frage (mehr an mich selbst): Was ist wichtig, wenn nicht allein das Interessante?

    Lieber Gruß und Dank
    Ihr Herr Hund

      1. Nachdem ich, auch dank Ihnen, wieder auf Roth aufmerksam geworden bin und, Schicksal oder Zufall, ein Gratisexemplar seiner Biographie, die übrigens vielversprechend gut ist, auf der Straße gefunden habe, bin ich jetzt erstmal literarisch fixiert und für Anderes, wenngleich ich mir für die Zukunft weiter eifrig Notizen mache, in aller Ausführlichkeit belegt. Ich muss erst durch Roth durch und dann über ihn hinweg, bevor ich weitermachen kann.

        Liebe Grüße
        Ihr Herr Hund, Langsamleser

      2. Lieber Langsamleser,
        so ein Fund ist immer ein Wink - ich wünsche viel Freude bei Ihrer Zeit mit Herrn Roth (ich musste selbst etwas Rothpause einlegen, weil der Hiob einfach nicht so einfach zu lesen ist…)
        Viele Grüße zurück!

  2. Schon wieder Roth, dachte ich zunächst. Doch am Ende des Beitrages überwiegt die Neugier. Joseph Roth ist einer (der vielen Autoren), die bislang unter meinem Radar geflogen sind.
    Werde aber jetzt mal genauer hinschauen und reinlesen; dank Birgits Einsatz für den Schriftsteller.

    1. Reinlesen ist sicher einen Versuch wert! Und wegen „schon wieder“ 🙂 Da kommt noch ein bißchen was nach - ich hab so manches Mal Schwerpunkte, auch wenn die Leser drunter leiden müssen 🙂

  3. Liebe Birgit,
    Du schreibst an einer Stelle: „Der Erzähler ist ein assoziierender Flaneur.“ Wie gut das auf Rots Schreiben (und Leben) insgesamt aber natürlich besonders auf manche Erzählungen passt. April ist, soweit ich mich erinnere in dem Band ‚Die Legende vom heiligen Trinker‘ erschienen. Ich habe da noch eine uralte KIWI-Taschenbuch-Ausgabe. Die werde ich jetzt wohl mal suchen müssen…
    Vielen Dank mal wieder fürs Wiederhervorholen und insbesondere für die Zeilen über den New York-Bezug und die interessanten Hinweise dazu.
    Liebe Grüße, Kai

    1. Lieber Kai,
      ich habe eine Sonderausgabe „Gesammelte Erzählungen“ von Kiepenheuer&Witsch, da ist von Barbara bis zur Legende vom hlg. Trinker alles drin, was bis dahin (Anfang 2000er) bekannt war. Bei 2001 gibt es sein Gesamtwerk übrigens für 9,99 🙂 (nicht dass ich hier jetzt Werbung mache, aber als Service für andere Blogger). New York bzw. Thema jüdische Mirgration taucht ja dann in Hiob auf als Schlüsselthema. Später, als Roth sich jedoch nach der Monarchie, dem k. und k. Staat zurücksehnte und dies sicher auch idealisierte, wandte er sich von diesen modernen Strömungen wieder ziemlich ab, da war Amerika wohl eher verachtungsvoll belegt…LG Birgit

      1. Liebe Birgit, habe grade mal geschaut, es gibt einen lieferbaren Band ‚Die Erzählungen‘ von 2010, und da sind alle Erzählungen drin. Den werd ich mir besorgen. Ansonsten gibt es furchtbar vieles bloß noch als ebook, damit kann ich nix anfangen, Bücher muss ich als Bücher lesen…
        Liebe Grüsse, Kai

  4. Vielen Dank für das Erinnern an Klassiker. Joseph Roth kenne ich bis jetzt noch nicht - deine Besprechung hat mich aber sehr neugierig gemacht. Roth wandert jetzt sofort auf mein E-Book. Wenn das Wetter so bleibt, brauche ich eine Menge Lesestoff im Urlaub …
    Ich freue mich auf weitere Besprechungen. Dein blog ist immer einen Besuch wert. 🙂

    1. Das freut mich sehr…Neugierde wecken auf unbekannte Schriftsteller ist zwar mit hoher Verantwortung verbunden (hoffentlich gefällt es euch beim Lesen, hoffentlich erzähle ich keinen Quatsch), aber inzwischen trage ich daran leichter 🙂
      Herzlichen Dank auch für deine Besuche auf dem Blog und die freundlichen Worte!

  5. Keine Sorge - eine Buchbesprechung ist die ureigenste Meinung, spiegelt den persönlichen Geschmack des Rezensenten wieder, finde ich. Es bleibt jedem selbst überlassen, diesem zu folgen oder nicht. Ein Rezensent kann Appetit machen - trotzdem muss es dem Leser nicht unbedingt schmecken. Er kann selber entscheiden, trägt selber die Verantwortung.
    Ich freue mich immer, wenn „alte“ Autoren vorgestellt werden. J. Roth kannte ich nur vom Namen her.
    Wenn man den Buchmarkt verfolgt, die vielen Bücherblogs, das Feuilleton, dann wird einem schwindelig ob der vielen Bücher, die man lesen muss, lesen sollte. Immer der neueste Buchpreis, immer ein neues viel versprechendes Talent … schwindelig kann einem werden. Wie soll man das alles schaffen? Welche Auswahl soll man treffen? Wo bleibt der Genuss?
    Wenn ich in die Vergangenheit gehe, werde ich ruhig. Diese Bücher, die vor 50 oder 100 Jahren geschrieben wurden und immer noch gelesen werden - das bedeutet für mich Entschleunigung. Menschliche Konflikte wiederholen sich. Gibt es nicht überhaupt nur ganz wenige Grundthemen?
    Wo sind die „Neuen“ in fünfzig, hundert Jahren? Erinnert man sich noch an sie? Oder werden sie begraben unter einem riesigen Haufen?
    Manche Bücher bleiben. Und es kann nicht schaden, sie zu lesen.

    1. Danke für diesen wunderbaren Kommentar, der mir aus der Seele spricht. Schon oft habe ich ein Buch, das im Feuilleton als das Debüt des Jahres angepriesen wurde, eher enttäuscht zur Seite gelegt…
      Zwar will ich mir die Neugierde auch für Neuerscheinungen offenhalten, aber ausgewählt - die Thematik muss mich reizen, die Sprache muss mich sofort packen, hilfreich dann eher auch die Empfehlung durch jemanden den und dessen Geschmack ich kenne.An Literatursendungen und Zeitungsbeilagen orientiere ich mich seltenst. Aber der Griff zu den modernen Klassikern hat für mich eben diese entschleunigende Wirkung, die du ansprichst - und Joseph Roth ist einer, da fühle ich mich in der Sprache zuhause und doch ist wieder alles so frisch, so neu.
      Große Klasse dein Satz vom Appetit machen, schmecken muss es dem Leser nicht - den merke ich mir 🙂

  6. Sehr interessant, liebe Birgit. Auch sehr schön Deine ausgewählten Zitate. Vielen Dank! Eben habe ich gesehen, dass Du derzeit Michael Krüger liest. Da bin ich schon sehr gespannt! Liebe Grüße und einen schönen Sonntag für Dich. Liebe Grüße von der Beobachterin

    1. Den Michael Krüger habe ich noch etwas zurückgestellt, ich versinke z.Z. eher wieder in der österreichischen Literatur rund um Roth. Habe gerade Albert Drach entdeckt - sagenhaft gut. Schöne Sonntagsgrüße zurück!

      1. Okay, okay, kein Stress, liebe Birgit! Ich kenne das sehr gut! Mach es so, wie Du es machst, alles gut. Eben habe ich zufällig, ein Ding, oder? 🙂 Eben beim Lesen der abonnierten Blogs gesehen, dass eine Leserin eine Rezension seines Buches gepostet hat. Die lese ich gleich. Insofern bin ich also glücklich und „satt“. (Ich lese so gern Michael Krüger! Seine Prosa kenne ich bislang aber noch nicht, noch nicht! 🙂 ).
        Danke für die lieben Grüße und Albert Drach werde ich mal in die Suchmaschine eingeben. Von Roth las ich die Legende vom heiligen Trinker, die mich seinerzeit schon beeindruckt hatte. Vielen Dank für Deine schönen Beiträge. Liebe Grüße!

      2. Eben … kein Stress, soll ja Freude machen. Ich hab das Buch von Michael Krüger angelesen - gefiel mir gut, schön schräg, wie Herbert auf seinem Blog schreibt. Da der Verlag auch eifrig bei Bloggern für das Irrenhaus getrommelt hat, wirst du in nächster Zeit sicher gut mit Besprechungen dahingehend versorgt werden 🙂 Ich widme mich derweil mal den älteren Össis 🙂

      3. Unbedingt! 🙂 Viel Freude weiterhin! Bei mir hat niemand fürs Irrenhaus getrommelt (hihi, schöner Satz), aber ich bin ja jetzt bei Dir drauf aufmerksam geworden, insofern: Alles fein. 🙂

      4. Ah, danke, der heißt Herbert, wußte ich nicht. Ist aber zufällig das Blog, dass ich auch abonniert und schon hier geöffnet habe. Danke Dir. Hab eben auf die Seite geschaut und gesehen, dass Du ein „like“ hinterlassen hattest. 🙂 Liebe Grüße!

      1. Momentan widme ich mich einem anderen Schreibgott und Neuling in meiner Bibliothek. Ich lese gerade Hanns-Josef Ortheils „Die große Liebe“ und da will ich „monogam“ bleiben. Aber der Roth könnte vielleicht einer meiner nächsten Lebensabschnittsautoren werden. 🙂

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