Florian L. Arnold: „Die Ferne“ (2016).

20160823_155607_001„Kein Mensch hatte ein größeres Verlangen nach Büchern als Itys. Wenn er nicht Vater und Mutter bei ihren Forschungsarbeiten unterstützte oder sich um die Instandhaltung des Hauses kümmerte, sah man Itys lesend. Vielleicht besaß er einmal etwas Geld, vielleicht sogar ein Vermögen, doch er steckte jeden Cent in seine Bücher, von denen er manche in bestimmten Abständen verkaufte, um neue Bücher erwerben zu können. Er trug die Bücher in seinen Anbau, wie ein verwildertes Tier seine Beute in Sicherheit bringt. (…).

Jeder Winkel war mit Regalen und Konstruktionen für seine Bücher genutzt, selbst in die Schrägen des Daches hatte er Bücher gefügt.
Hast Du die alle gelesen?, fragte ich ihn. Er nickte nur. Was steht in den Büchern?, fragte ich weiter. Gedichte, antwortete er, Gedanken, auch Fragen. Vieles, das man nicht sofort verstehen soll; und darum muss man es immer wieder lesen. (…).

Sieh nur, sagte er und hielt mir einige seiner Schätze hin: Sie sind so kostbar, weil sie sich mit Geschichten vollgesogen haben, sie sind durch hunderte Hände gegangen. Sieh nur hier, sagte er und ließ mich selbst die Bücher durchblättern. (…)

Itys forderte mich auf, am Papier zu riechen, forderte meine Fingerkuppen zu einer Reise über das Papier auf:

Nun rate, sagte er, wie viele Fingerkuppen sind wohl über diese staubstumpfen, sandgelben Papierebenen geglitten?“

Florian L. Arnold, „Die Ferne“, Mirabilis Verlag, 2016.

Ein fast schon mystisches Verhältnis zu Büchern vermittelt Itys dem Kind Evren - etwas, das sein weiteres Leben, seine Lebenssuche wesentlich prägen wird. Denn Evren, der zuerst seine Eltern, Vulkanforscher, verlieren wird, dann fast sein eigenes Leben aus Trauer um diese Verluste und schließlich auch den Assistenten der Wissenschaftler, Itys, der für das Kind wie ein zweiter Vater war, wird im Grunde sein ganzes weiteres Leben nach Geschichten forschen …

Der zweite veröffentlichte Roman von Florian L. Arnold, der bereits 2015 mit seiner Novelle „Ein ungeheuerlicher Satz“ (ebenfalls im Mirabilis Verlag erschienen) auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage auf sich aufmerksam machte, ist schwer einem Genre zuzuordnen: Zeit und Orte wirken unbestimmt. Auf der Suche nach seinen Wurzeln begibt sich der junge Mann in ein sagenumwobenes Land namens Gadjan. Mit der fortschreitenden Erzählung wird auch in die (fiktive) Historie dieses (fiktiven) Landes eingeführt - ein Sehnsuchtsort, der bereits dem Untergang preisgegeben ist.

Und dennoch ist „Die Ferne“ kein Buch aus dem Genre „Fantasy“ oder „Saga“. Alles ist Metapher: Die Suche nach dem verlorenen Land, das ist die Suche nach Herkunft, Zugehörigkeit, Prägung, aber auch nach Zukunft, Ziel und Sinn. „Eine bildgewaltige Erzählung über die Irrwege des Erinnerns, über Freundschaft und Liebe, Einsamkeit und Verlust“, heißt es im Klappentext zum Buch und weiter: „Mit unbändiger Fabulierlust schafft der Autor unglaubliche Szenarien: ein Füllhorn von Bildern und Personen, in dem existenzielle Erfahrung und sinnliche Fantasiewelten zusammenwachsen.“

Die Kurzbeschreibung könnte etwas irreführend sein: Bei so manchem Leser könnten „unbändige Fabulierkunst“ und „Fantasiewelten“ Hoffnungen auf Einhörner, Hobbits oder ähnliches wecken - und der wäre dann enttäuscht. Denn tatsächlich fehlt es an solchen Fabelwesen - obwohl die Erzählung Mythen und Phantasien von verlassenen Einöden voller Vulkangestein heraufbeschwört, so ist sie im Kern durch und durch real und menschlich: Sie handelt von einem, der alles verloren hat und auf der Suche ist, nicht zuletzt auch auf der Suche nach sich selbst.

Florian L. Arnold erzählt dies in einer ganz eigenen Sprache, die - passend zur Passion der Vulkanforscher - einen gleichsam wie ein Lavastrom beinahe magnetisch in die Geschichte einsaugt: Es ist dieses Sprachvermögen, eine ganz eigene Sprachmelodie, die den Leser durch diesen schwer einzuordnenden, aber nicht minder faszinierenden Roman trägt.

„Am Abend finde ich Obdach unter einem breiten Felsüberhang, von dem aus ich den Blick zurück in die Senke von Bavren und hinein in den Sonnenuntergang genieße. Später senkt ein schwarzer Himmel sich auf das Khpȗhi, und die eben noch gläsern wirkenden, zerrissenen Zinnen der Berge brennen in unheimlichen roten und violetten Farben, um kurz darauf in aschfarbene Stille zu sinken: Denn selbst in die größte Finsternis nehmen meine Augen einen Teil des Lichtes dieser Welt mit.“

Der Roman selbst ist vollgesogen mit Geschichten, geschrieben in einer Sprache, die den Eindruck unterstützt, einem Gelehrten früherer Tage, einem Weltenforscher alten Schlages auf der Spur zu sein. Ergänzt wird der so gelungen altertümlich anmutende Text durch Fotografien des Ulmer Autors, der als freier Zeichner, Schriftsteller sowie im Duo mit Rasmus von Beusten auch als Kopf der Ulmer Literaturwoche und eines eigenen Verlages multitalentisch unterwegs ist.

Wie aus dem Schöpfer eines Klavierkonzertes „für einen halben Konzertflügel und Entenschnattern“ der ernsthafte Schriftsteller Florian L. Arnold wurde, kann man hier lesen: http://www.florianarnold.de/

Mehr zum Buch beim Mirabilis Verlag: http://www.mirabilis-verlag.de/

 

 

Verfasst von

Das Literaturblog Sätze&Schätze gibt es seit 2013. Gegründet aus dem Impuls heraus, über Literatur und Bücher zu schreiben und mit anderen zu diskutieren.

6 thoughts on “Florian L. Arnold: „Die Ferne“ (2016).

    1. Liebe Jutta, bin ja sehr erleichtert, von Dir zu lesen. Befürchtete schon, Du würdest den Rest des Jahres weinend in der Ecke liegen. SECHS zu NULL. Aber zur Hauptsache: DEM Buch. Danke Dir! Ja, über Elsa Ferrante wird dieser Tage genug geschrieben. Da muss man doch so feine Romane von den kleinen Verlagen ein wenig in den Blickpunkt rücken. In „Die Ferne“ habe ich mich richtig reintreiben lassen - ich kann es sehr empfehlen! LG Birgit

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      1. Liebe Birgit, ich danke dir sehr für das freundliche Mitgefühl, dessen ich bedarf und zugleich auch nicht oder anders bedarf (um meiner Freude an rätselhaften Äußerungen nachzugeben)! Es ist in diesen Tagen so, dass für den Werder-Fan meines Typs das große Schimpfen und den Trainer Verwünschen fast noch mehr Nerven und Energie kostet, als das Hinnehmen dieser Klatsche … Und dann konnte/musste ich das Spiel allerdings auch gar nicht sehen, weil ich ein letztes Mal die Schweinemaske aufgesetzt hatte, was mir wiederum eine sehr erfreuliche, wie unverhoffte Begegnung mit hausauspapier einbrachte, bei der wir dann auch über dich und deinen schönen Blog sprachen und die Neigung diverser BloggerInnen, sich real zu begegnen😉

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      2. Liebe Jutta, Du weißt doch, dass ich nur halbherzig lästere, weil ich a) eh keine Ahnung habe und b) den FC Bayern absolut nicht abkann. SO, die Schweinemaske und Hausauspapier … das ist ja toll! Ihr solltet doch bald ein Gastspiel im Süden erwägen …!

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      3. Ja, unbedingt - allerdings bin ich in zukünftig nur als Autorin zu „buchen“ - aber da fällt uns schon etwas ein. Vielleicht ja der „Geschichten-Generator“, der - hatte ich das eigentlich schon erwähnt? - im Herbst in einer schönen, von Axel Stiehler gestalteten und handgedruckten Version an den Start gehen soll … Ach, wir finden schon was ,-)

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  1. Liebe Birgit, das hört sich nach einem Buch wie für mich geschaffen an. Ich habe es auf meine Wunschliste geschrieben. Die wird immer voller, weil ich im Moment wieder für die Uni lese. Aber diese Bücher sind auch interessant. Ich beschäftige mich mit Picassos Auseinandersetzung mit Velazquez‘ Las Meninas. Liebe Grüße nach Augsburg von Susanne

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