Bill Bryson: Sommer 1927 (2013).

1927 war das Jahr, in dem Henry Ford von seinem Sohn Edsel genervt war. Aber das war er eigentlich immer.
1927 war das Jahr, in dem Henry Ford von seinem Sohn Edsel genervt war. Aber das war er eigentlich immer.

„Als in Amerika der Juli anbrach – in der Woche, in der Richard Byrd und sein Team vor der französischen Luftfahrt notwasserten, in der New York unter seiner ersten Hitzewelle litt, in der Calvin Coolidge seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag feierte, indem er in seine Cowboy-Montur schlüpfte, in der Charles Lindbergh nach Ottawa startete, in der Henry Fords Lakaien seine Entschuldigung an die jüdische Bevölkerung vorbereiteten und in der sich die führenden Zentralbanker der Welt zu einer geheimen Beratung auf Long Island versammelten -, beschäftigte die Nation am meisten, wie fit und motiviert Jack Dempsey war. Unzählige Reporter berichteten täglich aus seinem Trainingslager am Saratoga Lake im Bundesstaat New York und behaupteten, er wirke bedrohlich und entschlossen und seine Boxhiebe hätten eine Härte, wie man sie seit Jahren nicht mehr gesehen habe.“

Bill Bryson, „Sommer 1927“, Goldmann Verlag, 2014, Originaltitel: „One Summer. America 1927“, 2013.

In einer Sache kann man sich sicher sein: Wenn sich Bill Bryson ein Thema vornimmt, sei es eine kurze Geschichte von fast allem, seien es Reiseberichte oder Shakespeare-Dramen, dann wird es hochvergnüglich. Manchem distinguierten Historiker zuckt zwar die Augenbraue bei Nennung dieses Autorennamens hoch, aber die Leserschaft goutiert den Stil des gebürtigen US-Amerikaners, der seinen Lebensschwerpunkt jedoch nach England verlegt hat. Und so ist auch „Sommer 1927“ ein höchst unterhaltsames Sachbuch, das einige Monate wenige Monate der amerikanischen Geschichte in den Fokus nimmt.

Zwar ist es nicht ganz schlüssig, warum ausgerechnet der Sommer 1927 (das war der, in dem laut Bryson „die Regierung ihre Bürger vergiftete“) für die USA von so wegweisender Bedeutung gewesen sein sollte. Dies ist jedenfalls der Ausgangspunkt, um den Bryson kreist. Ebenso würden zwar sich in den Jahren davor und danach Anhaltspunkte finden, um sie zu den Wendepunkten zu machen, an denen „Amerika erwachsen wurde“. Aber egal: Auch wenn der Amerikaner über 1743 oder 1984 schriebe, ich würde es mit Vergnügen verschlingen.

1927 jedenfalls ist das Jahr, in dem Charles Lindbergh, quasi als Unbekannter aus dem Nichts, den Flug nach Europa wagt und eine Nation in ungeahnten Freudentaumel versetzt. An dieser roten Linie – Lindberghs Alleinflug über den Atlantik und seine anschließende triumphale Tour durch die USA – reiht Bryson zahlreiche meist amüsante Anekdoten aus einem Sommer, der vom Fliegen, vom Baseball und vom Boxen geprägt zu sein schien. Neben Lindbergh sind weitere Hauptdarsteller unter anderem der legendäre Baseballer Babe Ruth, der Boxer Jack Dempsey, Wayne B. Wheeler, Motor der Prohibition, Al Capone und der verschrobene sowie höchst antisemitische Henry Ford.

Anhand dieses Personals bietet damit Bryson damit auch einen Blick auf eine Nation, der nicht schmeichelhaft ausfällt: Die USA als damals reichstes Land der Welt bieten ihren Bürgern Wohlstand und Komfort, nirgendwo sonst gibt es so viele Haushalte im Besitz mechanischer und elektronischer Küchengeräte, nirgendwo sonst so viele Automobilbesitzer, nirgendwo sonst so viele Kinos, nirgendwo sonst…gemessen natürlich an der etablierten weißen Bevölkerung. Und nirgendwo sonst haben die Medien bereits solche Macht: Sie unterhalten das Volk jedoch vor allem mit Brot und Spielen.

„In erster Linie aber waren die zwanziger Jahre die Blütezeit der Zeitungen. Die Zeitungsverkäufe stiegen um ein Fünftel, auf sechsunddreißig Millionen Exemplare täglich – oder 1,4 Zeitungen für jeden Haushalt. (…) Darüber hinaus konnten Leser in vielen Städten ihre Nachrichten jetzt einer neuen, revolutionären Form der Publikation entnehmen, die die Erwartungen der Menschen, wie tagesaktuelle Nachrichten aussehen sollten, völlig veränderten: dem Boulevardblatt. Boulevardblätter richteten ihren Schwerpunkt auf Verbrechen, Sport und Klatsch über Prominente und maßen allen drei Sparten dabei eine Bedeutung zu, die sie bislang nicht annähernd genossen hatten. Eine 1927 durchgeführte Studie zeigte, dass Boulevardblätter zwischen einem Viertel und einem Drittel ihres Umfangs der Verbrechensberichterstattung widmeten – bis zu zehnmal so viel wie seriöse Zeitungen. Ihrem Einfluss war es zu verdanken, dass ein unspektakulärer, aber blutiger Mord wie der an Albert Snyder landesweit Schlagzeilen machte.“

Müsig zu fragen, was zuerst da war: Die Henne oder das Ei. Ob der Boulevard nur eine Sensationslust befriedigte, die befriedigt werden wollte, oder ob Schlagzeilen diese Gier nach Mord&Totschlag erst weckten. Philosophische Gedankengänge dieser Art sind Brysons Sache nicht. Dafür treibt er seine Geschichte – oder vielmehr die Geschichten dieses Sommers – so voran, dass man einfach bei der Stange bleibt. Immerhin, so etliche Kapitel später, führte diese Sensationsberichterstattung auch zur traurigen Berühmtheit von Sacco&Vanzetti, jenen zu Tode verurteilten italienischen Einwanderern, die in einer engstirnigen, verunsicherten und xenophoben Gesellschaft keine Chance auf einen gerechten Prozess hatten. Und hier zeigt sich eine weitere Qualität des Buches: Manches Ereignis und mancher Zustandsbericht aus dem Jahr 1927 lässt sich unter veränderten Vorzeichen auch auf 2015 übertragen. Ein Land in leichter Hysterie – als läge die Ahnung der Weltwirtschaftskrise, deren Ursprung in einem Bankertreffen 1927 gelegt wird, schon in der Luft.

„Die damalige Zeit war keine gute, wenn man in Amerika lebte und ein Radikaler oder ein Ausländer war – und eine ausgesprochen gefährliche, wenn man beides war. Die Angst vor den Roten, den Sozialisten und Kommunisten, hatte das Land fest im Griff. 1917 und 1918 hatte der Kongress zwei erschreckend restriktive Gesetze erlassen: die Spionage- und die Volksverhetzungsverordnung. Beide Erlasse sahen schwere Strafen für diejenigen vor, die für schuldig befunden wurden, jegliche Art von Respektlosigkeit gegenüber der Regierung oder ihrer Symbole – der Flagge, militärischen Uniformen, historischen Dokumenten und allem anderen, auf dem die Ehre und Würde der Vereinigten Staaten von Amerika beruhte – zur Schau gestellt zu haben. Sie wurden dann auch mit großer Härte und Erbarmungslosigkeit angewandt. „Bürger kamen ins Gefängnis, weil sie an ihrem eigenen Esstisch das Rote Kreuz kritisiert hatten“, merkte ein Kommentator an. In Vermont wurde ein Geistlicher zu einer fünfzehnjährigen Haftstrafe verurteilt, nachdem er ein halbes Dutzend pazifistische Flugblätter verteilt hatte. In Indiana brauchten Geschworene gerade einmal zwei Minuten, um einen Mann für unschuldig zu erklären, nachdem dieser einen Einwanderer erschossen hatte, der schlecht über Amerika geredet hatte.“

Ein wenig untermauert Bryson mit diesem Buch auch die Klischees, die man von den Vereinigten Staaten und ihren Bürgern hat: Home oft he free and brave, Heimat der Automobilisten, Gewehrträger, Baseballfans, Land der Größe und Engstirnigkeit zugleich. Vor allem aber, dies sei nochmals gesagt, bietet Bryson Geschichte auf äußerst unterhaltsame Weise dar, schildert Zeit und Menschen fast schon greifbar lebendig und mit großem, augenzwinkerndem Humor:

„Als Lindbergh endlich die Rednerplattform erreichte, nickte er den Anwesenden zu und nahm den Jubel der Menge entgegen. Präsident Coolidge hielt eine kurze Willkommensrede, steckte im ein Distinguished Flying Cross aufgrund der heldenhaften Leistung ans Revers und lud ihn mit einer Geste ein, etwas zu sagen. Lindbergh beugte sich zum Mikrofon hinunter, das für ihn etwas zu tief eingestellt war, sagte, er freue sich, hier zu sein, bedankte sich mit knappen Worten und trat wieder zurück. Es folgte ein Augenblick unheimlicher Stille, in dem den unzähligen Zuschauern, von denen die meisten seit Stunden in der heißen Sonne gestanden hatten, bewusst wurde, dass sie es mit den zweien der schweigsamsten Männer Amerikas zu tun hatten und dass die Feierlichkeiten beendet waren.“

Ich danke dem Verlag für das Besprechungsexemplar.

Weitere Blog-Rezensionen gibt es hier zu lesen:
Jargs Blog
Lesekabinett Leipzig
Feiner reiner Buchstoff

Ein Beitrag von Claudio Miller

11 Gedanken zu “Bill Bryson: Sommer 1927 (2013).

  1. Ich denke mal 1927 gilt Bryson als Jahr des Durchbruchs, eben wegen des Lindbergh Flugs. Ich habe mich das bei der Lektüre allerdings auch gefragt. Eine sehr fundierte Rezension, die meine Eindrücke gut wiedergibt ;)

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    1. Danke sehr! ich habe soeben die Buchbesprechung beim feinen Buchstoff gelesen - wird verlinkt. Ja, das liest sich, wie auch ihr schreibt, als sei man dabei gewesen. Der Bryson kann das einfach…

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  2. Ehrlich gesagt tue ich mich mit dem Autor etwas schwer. Ich habe hier sein “Eine kurze Geschichte von fast allem” liegen. Es wurde seinerzeit in der Presse hochgelobt, das es anschaulich und kurz (!) die Dinge unseres Universums erkläre. Puh … ehrlich gesagt habe ich kurz bisher vermisst. Es liegt hier und will zu Ende gelesen werden … aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ich es noch in diesem Leben lesen werde …

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    1. ich kann verstehen, dass man mit dieser Art der Sachbuch-Lektüre sich nicht anfreunden kann - ich geniesse die Bryson-Sachen in der Regel, weil sie leicht zu lesen sind und doch Geschmack machen, einige Themen zu vertiefen.

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  3. Lieber Claudio,
    ich mag Bill Bryson und seine sehr lesbare Art zu schreiben hin und wieder sehr gern - und das Thema des Buches finde ich hochspannend. Nach Deiner schönen, mir sehr schlüssig erscheinenden Besprechung, werde ich es nun wohl auf die lange Liste nehmen müssen…
    Vielen Dank für die Besprechung und liebe Grüsse
    Kai

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    1. Hallo Kai,
      die Bücher von Bryson machen einfach Spaß. Und das sollte Literatur ja auch mal dürfen :-)
      Nachdem ich zu den USA eine widersprüchliche Form von Hassliebe habe, kam mir das Buch gerade richtig.
      Viele Grüße und Danke schön!

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