Walter Bauer: Die Stimme (1961).

„Die Stimme“: Eine schmale Erzählung, knapp 100 Seiten, ihr Inhalt in wenigen Worten umrissen. Und dennoch steckt in diesem kurzen Text soviel Welt.

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Augsburg (339)
Bild: Birgit Böllinger

„Die friedlose Erde rundete sich und besaß wieder Tag und Nacht in ihrer Ordnung. Ich spreche vom Glück.
Verstehen Sie? Ich wage das Wort zu sagen in einem glücklosen Jahrhundert, das in die Luft fliegen kann. Ich spreche nicht von der Dauer des Glückes; ich spreche von Augenblicken - von jenen Augenblicken, in denen ich mich zum ersten Mal wieder leben fühlte, weil ich einen anderen in meinen Armen hielt. War das alles? Hätte das nicht auch „drüben“ geschehen können? Vielleicht; weshalb nicht? Aber es geschah hier und in einem Augenblick, auf den alles in mir gewartet zu haben schien; und die Worte, die ich gebrauchte, sagte ich zum ersten Male. Ich sagte sie in einer anderen Sprache; und wenn ich allein in meinem Zimmer war, schlug ich das Wörterbuch auf und suchte nach Worten, die ich sagen wollte. Sie waren alle neu, sie glänzten von Leben und Frische und waren mit Leben gefüllt. Denen, die hier lebten und sich in ihrer Sprache bewegten, wie in einem vertrauten Haus, waren sie abgenutzt, kleine Münze; doch nicht mir. Die Worte dieser Sprache wurden von mir neu erschaffen. Mund, Lippe, Brust, es war alles neu, frisch wie frisches Silber im Morgenlicht. Zärtlichkeit, Verlangen, Ruhe, Gelassenheit, Sterblichkeit, mir schien, als wüsste ich jetzt erst, was sie bedeuten. Das Wörterbuch war ein Buch des Lebens, und wenn ich nach Worten suchte, war es mir, als flüstere ihre Stimme die Worte mit, damit sie nicht nur Worte blieben, sondern, gefüllt mit ihrer Stimme, Teil meines Lebens wurden, wie meine alte, eingeborene Stimme Teil meines Lebens war; und auch sie, diese liebe, alte Sprache wurde von einem merkwürdigen Licht getroffen; sie wurde durchsichtig und rein.“

Exil und Neuanfang

Es ist eine ruhige, sachte Stimme, die aus dieser Erzählung zu uns spricht. Nicht aufdringlich, dafür desto eindringlicher. Diese Stimme erzählt von einem Schicksal, das im vergangenen Jahrhundert Abermillionen traf (und, solange es Menschen und Kriege und Katastrophen geben wird, weiter Abermillionen treffen wird): Exil, Verlust der Heimat, des Gewohnten, Neuanfang, neues Herantasten an eine neue Welt. Für die meisten bedeutet dies zudem: Neu sprechen lernen, lernen, in einer neuen Sprache auch zu denken, zu fühlen, zu leben. Für Schriftsteller, die in, mit und von ihrer Sprache leben, noch eine ganz andere, besondere Situation. Walter Bauer (1904-1976) verlieh dem mit seiner schmalen Erzählung eine Stimme.

Ein Einwanderer in Kanada – ganz offensichtlich das Alter Ego des Schriftstellers – berichtet einem jüngeren Besucher aus der alten Heimat von seinem Hineinwachsen in eine neue Welt. Angestrandet mit Millionen anderen, nichts als bittere, belastende Erinnerungen an einen Krieg, in dem die Seele beinahe zerbrach, im Gepäck. Er muss zuerst Fuß fassen, in Tritt kommen, auch in der neuen Sprache – um im herum doch Menschen, die ebenso aus allen Teilen der Welt angekommen sind auf diesem Kontinent, der Hoffnung und Vergessen verspricht. Aber:

„Jeder von ihnen war eine winzige Insel für sich, ohne Zusammenhang mit einem Kontinent, ich meine: mit anderen. Gibt es irgendwo soviel einsame Menschen wie hier?“
In einer Bibliothek schließlich lernt der Einwanderer eine Frau kennen. Dank ihr findet er seinen Weg hinein – hinein in die Sprache, zurück ins Leben.

Eine schmale Erzählung, knapp 100 Seiten, ihr Inhalt in wenigen Worten umrissen. Und dennoch steckt in diesem kurzen Text soviel Welt. „Die Stimme“ – sie ist nicht zuletzt eine wunderbare Parabel über die Kraft der Sprache. Die heilsame Kraft der Sprache, wenn zwei Menschen lernen, miteinander zu sprechen – „Geschichte einer Liebe“ hat Walter Bauer seine Erzählung untertitelt.

„Keine Frage, die Geschichte von Richard und Diana ist die Geschichte einer großen Liebe, eine Liebesgeschichte, die archetypischen Vorbildern aber eine neue Bedeutungsebene hinzugewinnt: Die beiden können einander nur finden, indem sie eine gemeinsame Sprache finden.“
Der Schriftsteller Jürgen Jankofsky im Nachwort zur vorliegenden Ausgabe.

Wie bereits erwähnt, ist die Erzählung autobiographisch geprägt. Walter Bauer, 1904 in einfachen Verhältnissen in Sachsen geboren, findet bereits mit seinen ersten Veröffentlichungen große Anerkennung, wird von Stefan Zweig gefördert, von Tucholsky, Werfel und Hesse gelobt. 1933 werden seine Werke, die davor erschienen, verboten. Der Schriftsteller und Lehrer wird zwar von den Behörden schikaniert, kann aber weiterarbeiten und publizieren.

So werde ich mein Leben verbringen: den Abgrund vor Augen
und eine gestählte Freude im Herzen.

Er geht in die innere Emigration. Einberufung, Fronteinsätze und Kriegsgefangenschaft folgen, Erlebnisse, die ihn nie wieder loslassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitet Walter Bauer äußerst produktiv vor allem als Autor von Hörspielen weiter und engagiert sich im PEN. Doch enttäuscht von restaurativen Entwicklungen in der Bundesrepublik entschließt er sich 1952 zur Auswanderung nach Kanada, zu einem Neustart. Er studiert moderne Sprachen und unterrichtet bis zu seinem Tod als Professor an der Universität von Toronto.

„Die Stimme“ wurde nun beim Lilienfeld Verlag wieder veröffentlicht, ansonsten sind seine Bücher und Texte nur noch antiquarisch zu erhalten.

„Gut, dass Walter Bauer nicht stumm wird. Gut, dass seine Stimme wieder stärker gehört werden kann. Er hat uns nach wie vor viel zu sagen.“
Jürgen Jankofsky.

„Die Stimme“ wurde beim Lilienfeld Verlag als Rezensionsexemplar angefragt.

Bestellen bei buchhandel.de: Walter Bauer, „Die Stimme“, Lilienfeld Verlag, 2014.

11 comments on “Walter Bauer: Die Stimme (1961).”

    1. Lieber Kai,
      meine Buchhandlung hatte neulich einen Tisch mit Büchern aus dieser Lilienfeld-Reihe, die auch sehr schön&liebevoll gemacht sind (z.B. wurde das Titelbild zum Bauer-Band eigens für das Buch gemalt). Beim Thema „Exilliteratur“ bin ich dann eh schon gefangen - und habe ich auch gefreut, so etwas schönes zu entdecken…
      Liebe Grüße Birgit

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  1. Schon wieder so ein Buch (Ulrich Becher mit der Murmeljagd steht bereits auf meiner Wunschliste), über das ich allein wohl nie gestolpert wäre und das mich augenblicklich wahnsinnig reizt - vielen Dank!

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    1. Ja, der Becher und der Bauer kamen nicht ganz zufällig nacheinander…Zwei Bücher zum Thema Exil, aber ganz unterschiedlich in Sprache, Stil, Umfang, Vitamin Autor. Ich bin mitten in der Murmeljagd und kann mich Claudios Urteil voll anschließen.

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