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Jonathan Franzen: “Das Kraus-Projekt” (2013).

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! seyn Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.

Heinrich Heine

Expansion

`nen Platz an der Sonne erlangen?
Nicht leicht.
Denn wenn er erreicht,
ist sie untergegangen.

Karl Kraus

Die Sonne ist zwar deswegen nicht untergegangen, aber ich habe erstmals ein Jonathan Franzen-Buch halbgelesen weggelegt. “Das Kraus-Projekt”: Mir kam es beim Lesen vor, als mache hier ein zwar eifriger, aber unkonzentrierter Student ständig seine Zwischenrufe…Franzen befasst sich mit zwei Aufsätzen von Karl Kraus, darunter jenem, in dem der Wiener Polemiker Heinrich Heine auseinandernimmt.

In Franzens Buch reihen sich Fußnoten an Fußnoten mit literarischen Erläuterungen, persönlichen Anekdoten (Anekdötchen), Betrachtungen über das Übel des Internets, amerikanische Literatur (Updike vs. Roth) usw. usf. aneinander. Man könnte sagen - Kraus ist die Grundlage und Franzen zwitschert dazu was.

Wie dieses:
“Wer hat schon Zeit, Literatur zu lesen, wenn man bei so vielen Blogs auf dem Laufenden bleiben, so vielen Essenschlachten auf Twitter folgen muss?“

Oder:

“Kraus macht sich hier über den im Wien der Vorkriegszeit herrschenden Stil des impressionistischen Journalismus lustig, der vor Adjektiven strotzt und mit “tiefschürfenden Gedanken” gespickt ist, aber seine Bemerkung “Immer passt alles zu allem” wird auch jedem America-Online-Kunden bekannt vorkommen, der die schreckliche Boulevardisierung (…)”

So hüpft Franzen von Krausens Vorkriegszeit zu AOL, bespickt die Fußnoten mit seinen tiefschürfenden Gedanken, verknüpft sie mit seiner Gegenwartskritik an einer verdigitalisierten Gesellschaft und bläht somit das Ganze zu einem veritablen Buch von  mehr als 300 Seiten auf. Im Grunde ist das Buch ein einziger Hashtag
#franzenüberkrausüberheineundüberdiewelt
und Jonathan Franzen ein Twitterer, der sich nicht mit der Zeichenbegrenzung abfinden kann. Die Erläuterungen zu Kraus und zu dessen Aufsätzen über Heine und Nestroy: Kenntnisreich ja, aber impressionistisch. Neue Kraus-Leser aus der großen Franzen-Fan-Gemeinde werden sich da wohl kaum finden.

Das Buch an sich: Kein Platz an der Sonne. Franzen: Den Zenit überschritten?

21 Comments »

  1. Ich war ja noch nie ein großer Fan, nicht mal seine Essays haben mich begeistern können, dabei wurden sie schwer gelobt … (Anleitung zum Alleinsein, feiner Titel eigentlich). Als Kehlmann beim Kraus-Abend davon erzählte, klang es ganz interessant, aber vielleicht spar ich mir das dann lieber.

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    • Ach, ich glaube wirklich, das muss man nicht lesen - lieber Karl Kraus im Original und dann, wenn man es vertiefen möchte, noch richtige Begleitliteratur dazu. Was er so an Randbemerkungen einstreut, kennt man schon aus den Zeitungsinterviews, die er regelmäßig gibt…
      Ich mochte seine Romane, die Essays hab ich damals in der ersten Fan-Euphorie mitgenommen, empfinde sie mittlerweile allerdings auch als etwas langatmig.

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  2. Liebe Birgit,
    ach, wie schön, Deine deutliche Einschätzung zu lesen. Ich stand letztens im Buchladen vor dem Werk, es hat mich aber allein der Form wegen abgeschreckt: So viele Fußnoten zum Text, die hier ja auch gelesen werden wollen und Bestandteil des Gesamtkunstwerkes sind. Das Hypertextlesen nervt ja schon manchmal im Internet, das eine führt zum nächsten und irgendwie sicher von der grundsätzlichen Frage, vom grundsätzlichen Thema weg, das möchte ich in Büchern nicht auch noch haben. Wenn Du nun auch noch schreibst, dass es sich auch inhaltlich nicht wirklich lohnt, bin ich ja mit meiner Nicht-Lese-Entscheidung ganz zufriedenden.
    Viele Grüße, Claudia

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    • Liebe Claudia,
      das Buch ist tatsächlich formal schon schwierig - bedarf doch schon ein Text von Karl Kraus der vollen Konzentration.
      Und inhaltlich “zerfasert” das Ganze, wenn auch einiges Wissenswerte über Kraus und Heine zu lesen ist, aber eben auch viele Anmerkungen, die nichts anders sind in meinen Augen als das, was Kraus ja letztendlich kritisiert: Impressionistisches Geplauder.
      Zumal Franzen ja auch halbherzig bleibt in seinen Versuchen, die “dunkleren” Seiten von Karl Kraus zu begründen. Zum Thema Frauen(feindlichkeit): Er habe die Überspitzung doch für seinen Stil gebraucht, es aber nur “nett” gemeint.
      Das “nett” mag eine unglückliche Wahl beim Übersetzen sein, ist aber ein Attribut, das mir zu Kraus nun wahrlich nicht einfällt…

      Liebe Grüße, Birgit

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  3. Dann weiß ich ja, dass ich sogar als eingeschworener Franzen-Fan lieber warte, bis er wieder einen seiner XXL-Romane schreibt. Danke für die bissige und witzige Besprechung. Tja, es sei ihm gegönnt einmal etwas zu machen, das nicht sonnengleich am Literaturhimmel er
    strahlt (aua - Allegorieschaden.).

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  4. Liebe Birgit, ich habe vor einiger Zeit eine Rezension gelesen, die in eine sehr ähnliche Richtung ging - und glaube (hoffe) aber nicht, dass Franzen seinen Zenit überschritten hat. Sehr empfehlen kann ich den Essay-Band “Weiter weg” und darin vor allem den Aufsatz “Über autobiographische Literatur” - das ist das klügste und erhellendste, was ich bislang zum Thema gelesen habe … Sehr herzliche Grüße!

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    • Liebe Jutta, die Frage nach dem Zenit war natürlich auch provokativ, um hier die Kommentarfunktion zu beleben - was ja halbwegs funktioniert hat :-). Zumal es auch chronologisch nicht stimmig ist, da Franzen die Kraus-Aufzeichnungen schon während seines Studiums in Deutschland betrieb. Dass die nun überarbeitet und veröffentlicht wurden, lag wohl vor allem am Drängeln verschiedener Leute (auch Daniel Kehlmann). Und vielleicht hat der Verlag gejammert…es muss was her!!! Man sollte Schriftsteller nicht unter Druck setzen.
      Aber: Jetzt ist es da, das Kraus-Projekt und es wirkt auf mich: Immer noch halbfertig. Neben den Schwierigkeiten mit dem Format an sich, sind es die manchmal weitschweifigen Abschweifungen zu Gedanken, die Franzen nun schon vielfach auch in Interviews etc. geäußert hat. Und diese zivilisationskritische Abkehr von allen Formen des Internets…
      Das Buch wirkt auf mich: zerfahren…Leider.

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      • Klar, dass ich da drauf reinfalle ;-) Und will ja auch gar nicht den Text verteidigen, was vermutlich auch nur möglich wäre, solange ich ihn noch nicht gelesen habe … Und ja: AutorInnen soll man nicht drängeln - höchstens zum Briefkasten.

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      • Ach, die Blindverteidigung finde ich eigentlich immer am lustigsten - wenn Menschen Bücher verteidigen, die sie nicht gelesen haben, von Autoren, die sie nicht kennen und deren Texte sie nicht verstehen :-) Was Du ja nicht tust. Aber wir sollten das mal als Veranstaltungsform andenken :-)

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      • Du könntest Deinen Tübinger Verlag dazu bringen, eine Lesung im Süden zu organisieren - dann erzähle ich was über einen Text von Dir, von dem Du noch nicht mal wusstest, dass Du ihn schreiben würdest :-)

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  5. Ich habe vor Jahren “Schweres Beben” angefangen und es beiseite gelegt, ich fand es einfach schrecklich (ich glaube, ich habe mich für dumm verkauft gefühlt, weil er immer so Offensichtliches sagte bzw. schrieb). Die Korrekturen fand ich okay, Freiheit liegt noch irgendwo im Regal, aber ich bin jetzt nicht soo sehr versucht, es herauszusuchen :-)
    Vielen Dank für die Rezension!

    Gefällt 1 Person

    • Die Korrekturen mocht ich, an das schwere Beben erinnere ich mich so halb, müsste ich vielleicht mal wieder lesen…Und die Freiheit gefiel mir schon sehr gut: Aber Dein Hinweis auf das “Offensichtliche” ist auch bezüglich dieses Romans stimmig.

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  6. das ist eigentlich schade,liebe Birgit, aber schon nach diesem ‘Gespräch’ der beiden (Franzen und Kehlmann) vor einigen Wochen war ich relativ skeptisch gespannt. Schade, denn das Thema und die beiden Protagonisten (wenn ich mal den Harry dazu zählen darf) könnte ja ein sehr spannendes sein. Aber vielleicht bin ich auch einfach voreingenommen, denn ich fand schon die Korrekturen mehrere 100 Seiten zu lang…
    Wie auch immer, ich habe mich über beide Gedichte gefreut und ich schätze tatsächlich beide Dichter sehr, trotz oder wegen Ihrer Gegensätzlichkeit.
    Liebe Grüsse
    Kai

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    • Lieber Kai,
      ja schade und auch eine verpasste Chance: Eine richtige Polemik auf die Polemik von Kraus über den Polemiker Heine, das wäre was gewesen…Damit meine ich: Kraus hat ja in seinem Heine-Essay bewußt auch provoziert. Und Heine selbst war ja ebenfalls durchaus scharfzüngig. Da dann vielleicht noch eins drauf zu setzen oder aber die Gegensätze scharf herauszuarbeiten (oder auch das, was Kraus zu unrecht an Heine bemängelt), das wär was gewesen…So aber ist es nicht Fisch, nicht Fleisch. Da ist Franzen zu brav.

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  7. Also Freiheit fand ich grandios - aber sich an Karl Kraus heranzuwagen und zu bewerten ? - mit welchem Begehr eigentlich - ist an sich ein ambitioniertes Unterfangen für jeden, der nicht den selben kulturellen und zeitlichen Background hatte … Also da bleib ich doch tatsächlich bei der Originallektüre und erfreue mich der deutlichen und direkten Sätze, die Kraus doch für mich auszeichenen.
    Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen auch Zwerge lange Schatten … ;)

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    • Auch so ein Kraus-Zitat, so ein bitterböses :-) Zum Kraus-Projekt habe ich gerade ein interessantes Interview mit Franzen gefunden, ein wenig zu seiner “Ehrenrettung”:

      “Während ich am “Kraus-Projekt” arbeitete, war ich mir bewusst, dass seine Form der des Online-Diskurses ähnelt, zumal zu vielen der Fußnoten ja das (via Internet geführte!) Dreiergespräch zwischen mir und Daniel und Paul gehört; ich hatte die leise Hoffnung, dass sorgfältige Leser schon merken würden, dass das Buch das Internet selbst dann affirmiert, wenn es das Netz eigentlich angreift.”

      http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article134937600/Suechtige-hoeren-nicht-gern-dass-sie-suechtig-sind.html - ich hoffe, er nimmt den letzten Satz ernst und erfindet wieder Geschichten!

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