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Reto Hänny: Blooms Schatten (2014).

Alleswahr (3)

„danach – war`s anders zu erwarten – der natürlich noch wach Liegenden (einladend vor ihm geöffnet, halb auf der Seite jetzt, der linken, die linke Hand unter dem Kopf, das rechte Bein gestreckt auf dem angewinkelten linken ruhend, erfüllt, entspannt, von Samen strotzend voll), beim Rapport ihr den Ritus des Onan und andere ihm unangenehme Vorkommnisse geflissentlich unterschlagend, vom Frühstück am Morgen über die Beerdigung bis zu seinem jetzigen Bei-ihr-Liegen in großen Zügen fein säuberlich den verflossenen Tag rekapituliert,“

Reto Hänny, „Blooms Schatten“, 2014, Matthes & Seitz Berlin

1 Buchseite nimmt dieser Absatz im Literaturexperiment des Schweizer Schriftsteller Reto Hänny ein – allein der Akt des Zu-Bettgehens eines gewissen Leopold Bloom erstreckt sich in der berühmten Vorlage über zahlreiche Absätze, eingeleitet durch Fragen, die jeden Gedanken des Bloom, insbesondere über den Liebhaber seiner Molly, festzuhalten versuchen.
Man schlage selber den „Ulysses“ nach, um zu lesen, wie sich bei James Joyce der Bloom im Bett erstreckt. Hier einige Beispiele, stark reduziert:

„Was für Gedanken hegte er bezüglich des letzten Gliedes dieser Reihe und kürzlichen Inhaber des Bettes? (…)
Warum gesellte sich für den Beobachter Erregbarkeit zu Kraft, Körperproportion und kaufmännischer Fähigkeit? (…)
Mit welchen widerstreitenden Gefühlen waren seine nachfolgenden Überlegungen besetzt? Mit Neid, Eifersucht, Entsagung, Gleichmut.
Neid? (…)
Eifersucht? (…)“

Mit welchen Modifikationen replizierte der Erzähler dieser Interrogation?
Negativ: er unterließ die Erwähnung der heimlichen Korrespondenz zwischen Martha Clifford und Henry Flower, der öffentlichen Kontroverse in, vor und bei dem lizensierten Schanklokal von Bernard Kiernon & Co., G.m.b.H., 8, 9 und 10 Little Britain Street, der erotischen Provokation sowie Reaktion darauf, verursacht durch den Exhibitionismus von Gertrude (Gerty), Nachname unbekannt.“
James Joyce, „Ulysses“, in der Wollschläger-Übersetzung

Verdichtet, eingedampft, eingekreist, nacherzählt, der Versuch, die Essenz eines Mammutwerkes in einem, einzigen langen Satz zu fassen – dieses, man mag schon beinahe „Wahnsinns-Experiment“ sagen, ist Reto Hänny mit „Blooms Schatten“ eingegangen. Er nimmt die Nacherzählung eines Tages mit dem berühmten Kalypso-Kapitel auf, beginnt diese Reduktion oder besser diesen Fassungsversuch mit einem Satz (der dann über die folgenden 139 Seiten nimmer mehr unterbrochen wird, ganz in der Tradition des Gedankenstroms) so:
„Die Odysee eines Annoncenakquisiteurs weder ohne Furcht noch ohne Tadel der, teils wie unter Schock, von morgens um acht all die Stunden bis weit über Mitternacht hinaus, das nimmer Neue mit immer neuer Hoffnung zu betrachten, einen hektisch anstrengenden Tag lang (einen, wenn man es bedenkt, völlig gewöhnlichen Frühsommertag, einen ausgesprochenen durstigen zwar, an welchen die Trockenheit nach Wochen eitel Sonne aber ihren Höhepunkt erreichen und abrupt zu Ende gehen sollte) durch das Labyrinth einer Stadt weit oben auf der nördlichen Halbkugel irrt, wo die vielen Kneipen den größten Teil der reichlich bemessenen freien Zeit und des leider der freien Zeit nicht ganz gemäßen Geldes beanspruchen…“
Somit ist das wer-wo-was umrissen – wer, das ist Leopold Bloom, wo, das ist Dublin, was, das ist ein Tag im Leben dieses Blooms, das ist auch dieser Roman, das Jahrhundertbuch, in dem Joyce den Gedanken eines Mannes einen Tag lang auf der Spur blieb, ein 24-Stunden-Gedankenstrom-Experiment – mehr als 90 Jahre später wiederum von einem Schweizer in einem weiteren Experiment zu einem einzigen Satz geformt.
Reto Hänny las den Ulysses erstmals mit 15 Jahren, wie er in seinem Nachwort schreibt, tauchte ein in eine Wunderwelt der Sprache, eine Begegnung, die ihn von seiner Legasthenie kurierte.
„Der Ulysees hat mich seither nicht mehr losgelassen, auch die letzten Jahre nicht, in denen ich mich vorwiegend mit Musik beschäftigte, und da bei mir seit je eins aus dem andern wächst, sind mir diese Musikstudien bei der Neuformung der alten Geschichte, die ich erst jetzt schreiben könnte, wie sie mir vorschwebte, zugute gekommen.“

Wie Roland Barthes einst postulierte, wird Literatur aus dem Leben gemacht – und auch, wenn Hänny sich an die Devise hält, „Literatur entstehe aus der Literatur“, liegt darin kein Widerspruch. „Blooms Schatten“ ist das Projekt eines Literaturbesessenen, eines Ulysses-Jüngers, einer, der sich sein Leben lang mit auf dieser Joyce-Odyssee befand, um nun endlich wieder anzukommen – in einem kleinen, schmalen Buch, eigentlich wohl auch ein Lebenswerk, in dem sich die Liebe zur Literatur und Musik verdichtet. Eingeflossen sind in dieses Ein-Satz-Buch noch weitere „Spuren und Ablagerungen der täglichen Lektüre“, es lohnt also, das Buch – das durchaus in einem Durchgang gelesen werden kann – mehrfach aufmerksam aufzunehmen, nach Shakespeare, Flaubert, Claude Simon und anderen zu forschen. Über allem aber ohne Zweifel Joyce.
Gesteckt ist damit jedoch dennoch auch der Rahmen, die Grundlage für Leser: „Blooms Schatten“ kann freilich auch ohne explizite „Ulysses“-Kenntnis als kleine Miniatur genossen werden, als eigenständiges Werkstück mit einer ausgesprochenen musikalischen Sprache, die sich beim Laut- oder auch Vorlesen voll entfaltet. Doch zum eigentlichen Genuss kommt man freilich nur dann, wenn man die berühmte Vorlage kennt – als Reduktion oder Zusammenfassung für jene, die Joyce-Kenntnisse vortäuschen wollen, eignet sich „Blooms Schatten“ nicht. Es ist also letztendlich doch ein Werk für eine kleine Lesergemeinde – umso rühmenswerter, dass der Verlag sich dessen angenommen hat. „Literatur in größtmöglichen Abstand zum Mainstream“ – dieses Zitat von Urs Widmer ist auf dem Umschlag zu lesen. Jawohl!

Buchvorstellung beim Verlag:
http://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/blooms-schatten.html

count)s Kommentare »

  1. Liebe Birgit, herzlichen Dank! Reto Hänny wird gleich morgen gekauft und sofort gelesen. Er war 15, ich 16 bei der ersten Odyssee durch das Joycesche Textdickicht. Ihn läßt der Text nicht los, mich auch nicht. Freue mich wie ein kleines Kind auf das, was Hänny noch zu sagen hat.
    P.S.: Habe ich bislnag noch nie gefragt, aber jetzt ist es das erstmal? Darf ich das - mit einführenden Notaten - bei lustauflesen.de rebloggen?

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    • Lieber Jochen, das freut mich sehr! Ich bin sehr gespannt, wie Dir das gefällt - ein Satz, ein Buch. Noch ein Tipp für den Joyce-Fan: “Dublinesk”, von Vila-Matas erschienen in der anderen Bibliothek. Und ein Reblog: Das wäre mir eine große Ehre! Herzlichen Dank und einen schönen Sonntag, Birgit

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  2. Was es alles gibt! Ich danke für die interessante Besprechung, liebe Birgit, aber ganz ehrlich: Allein die Vorstellung eines Ein-Satz-Buchs treibt mir die Schweißperlen auf die Stirn. Die Idee eines 24-Stunden-Gedankenstrom-Experiments finde ich spannend. Aber würde ab und zu mal ein Punkt dem Fluss wirklich Abbruch tun? Schönen Sonntag!

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    • Liebe Maren,
      es ist ja auch gut, dass es sovieles Verschiedenes gibt. Manchmal ist es gut, einen Punkt zu setzen. Manchmal, den Dingen, Wörtern ihren Fluss zu lassen. Ich fand dieses Buch nicht schweißtreibend, sondern wie eine schöne, leichte Melodie, von der man sich mittreiben lassen kann - Wellen, die nicht brechen (an einem Punkt). ABER: Mir ist klar, das ist nicht jedermann(frau)s Sache und muß ja auch nicht sein :-) Liebe Grüße Birgit

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    • Liebe Maren, ich möchte zu Birgits richtiger Bemerkung noch hinzufügen: JJ hat es vorgemacht im Penelope-Kapitel des Ulysses. Das liest sich erstaunlich leicht, wenn man erst einmal “reingerutscht”. Noch besser ist, es sich vorlesen zu lassen.

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      • Da kann ich nur zustimmen - Mollys Monolog hat mich schon beim ersten Lesen förmlich gepackt…ich dachte: ja genauso ist es, wenn ich gedanklich vor mir hinschweife…da hat es einer geschafft, so eine Gedankenrotation in Worte zu fassen. Sagenhaft.

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      • Na, wo sich jetzt eine so nette Unterhaltung entwickelt, gebe ich noch eine kleine Anekdote zum besten: Es war am Bloomsday 1986 (lang, lang, ist’s her), als Hans Wollschläger, Hermann Wiedenroth u.a. eine Nonstop-Lesung des Ulysses in Bamberg veranstaltet haben. In Echtzeit, an verschiedenen Orten. (Senationelles Erlebnis!) Am Ende des Tages lasen im Schummerlicht eines Salons drei Frauen im Wechsel Mollys Monolog. Ich und alle anderen Zuhörer, müde und abgekämpft, sind unwillkürlich in diesen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen gefallen. In diesem Moment hat Joyce’ Text gewirkt wie niemals zuvor oder danach …
        P.S.: Habe soeben den Reblog deines Artikels veröffentlicht.

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      • Liebe Birigt, lieber Jochen, ihr seid schon zwei Verführer! So ganz kann ich mir immer noch nicht vorstellen, wie es gehen soll, das Lesetempo (oder - viel besser! - das des Vorlesers) so zu verlangsamen, dass die Aufmerksamkeit folgen kann und gleichzeitig im Fluss zu bleiben. Aber ich merke, wie die Lust steigt, mich auf das Abenteuer einzulassen. Danke!

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  3. Ich war richtig alt, als ich mir den Ulysses vornahm, 20! Und den Hänny muss ich auch haben, bestell ich gleich. Und danke echt für den Tipp - endlich mal wieder ein Argument, weiter Blogeinträge zu lesen.

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  4. Ob ich beide Bücher jemals lesen werde, Original und Epigone, ist nicht die Frage, die sich mir stellt, die Liste ist erweitert, eine Lektüre wäre jetzt also nicht mehr nur zufällig, nein, ich bewundere jetzt für den Moment nur die Leidenschaft für die Literatur, die des Epigonen, die manches Kommentatoren Ihres Beitrags und letztlich Ihre selbst; ich schätze dabei im Besonderen, dass Ihre Leidenschaft für diese und andere Literaturen so unprätentiös vermittelt wird.

    Dank dafür.
    Ihr Herr Hund

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