Lutz Seiler: Die römische Saison (2016).

Rom,_Kolosseum_und_Forum_Romanum_by_Rudolf_Wiegmann_1835
Kolosseum und Forum Romanum, Rudolf Wiegmann, 1835

„Wozu die Qual? Der Gedanke, alles sein zu lassen, stand im Raum und beruhigte mich. Ich sah Rom, und Rom war der Ort, wo das Schreiben aufgegeben werden konnte. Auf dem Rückweg von V. zur Villa Massimo machte ich einen Umweg über die Via Aurelia. Ich rannte nicht mehr, der Ausblick über die Stadt und den Fluss wurde mir gereicht wie zur Belohnung nach Wochen sinnloser Qual, eine absurde Verkehrung der Dinge, sicher, aber das war egal. Noch einmal der sagenhafte Petersplatz, die gewaltige Kuppel, dann die Piazza del Risorgimento mit einem Reiterstandbild, ein Denkmal für die Arma dei Carabinieri.“

 

Lutz Seiler, „Die römische Saison“, Topalian & Milani Verlag, 2016.

Ingeborg Bachmann sagte in einem Fernsehinterview sinngemäß, in Rom sei sie eine bessere Wienerin. Zu jener Zeit schrieb sie bereits an „Malina“, jenem Roman über eine Schriftstellerin, die nicht am Schreiben, sondern am Leben zerbricht.
Aus einer der räumlichen Distanz zu den Herkunftsräumen zu schreiben – manchen, wie der Bachmann, ist erst oder auch nur dieses möglich. Mit einigem Abstand meint man, man könne dieses einleiten:

„Phase 1: Rekonstruktions- und Vergegenwärtigungsarbeit, Aufbereitung der Erlebnismaterials, eine Art Erinnungsmaschinerie.“

Doch da sitzt Lutz Seiler, in diesem riesigen Atelier, einst für einen Bildhauer eingerichtet, in der Villa Massimo, verloren in dem riesigen Raum, verloren in der Fülle des Material, und es geht: nichts. Endlich hat er, was sich jeder Schriftsteller wünscht: Zeit, viel Zeit, um an seinem ersten Roman zu schreiben. Die Villa Massimo, eigentlich ein Ruhepol in der Hitze und dem Trubel der italienischen Metropole. Doch wer selbst schreibt, weiß, dass, hat einen erst das Monster namens „Blockade“ im Griff, alles zur Ablenkung und Störung gereichen kann: Der Fleck an der Wand. Die makellos weiße Wand. Die Größe des Raums. Die Enge des Raums. Die Stille. Die Geräusche der Gärtner vor dem offenen Fenster. Lutz Seiler will „Von Rom nach Hiddensee“ (so der Name der ersten Erzählung in diesem Buch) und kommt nicht weit.

„Und Rom, Roma, Roman – klang das etwa nicht nach einer beinah natürlichen Steigerung der Dinge? Stattdessen Krise. Herzrasen, Hitze, Schweißausbrüche und Schlaflosigkeit, Magenkrämpfe und zu hoher Blutdruck – was folgte, war die rasche Entfaltung des kompletten Spektrums meiner hypochondrischen Möglichkeiten, ähnlich übertrieben, wie das Scheitern des Romans mit dem Einsturz des Kolosseums zu vergleichen, der im Aberglauben der Römer den Untergang Roms und dieser wiederum das Ende der Zeiten bedeutet: lächerlich – und nein, kein Vergleich, natürlich nicht. Aber ein Schriftsteller, der nicht schreibt, ist nichts wert, vor allem vor sich selber nicht.“

Das Kolosseum ist nicht eingestürzt, Rom bleibt die „ewige Stadt“ und der Roman wurde, wie wir wissen, vollendet – grandios vollendet: „Kruso“, der erste Roman des Lyrikers und Erzählers, erschien 2014 und erhielt den Deutschen Buchpreis. Ein poetisches, sprachgewaltiges Buch – mit viel römischen Schweiß und Schlaflosigkeit erkauft. Eine begeisterte Besprechung von „Kruso“ findet sich beim „Kaffeehaussitzer“ („Im Rausch der Sprache“).

Wie Lutz Seiler seine Schreibblockade überwand? Durch Loslassen, durch Leben. Irgendwann während seines Aufenthaltes in Rom anno 2011 beschließt Seiler, nicht mehr hinter dem symbolträchtigen Schrank, den er sich im Atelier sozusagen als Schutzwall zum Schreibtisch gerückt hatte, zu sitzen. Er geht raus, erkundet die Stadt, begleitet den Sohn Viktor zum Fußballtraining (dieser Beschäftigung ist die zweite, herrlich amüsante Erzählung des Bandes, „Die römische Saison“, gewidmet). „Nebenbei“ beginnt er wieder zu schreiben und beinahe unmerklich werden zufällige Begebenheiten zur Inspiration, durch ein Geräusch, einen Zufall, verwandelt sich ein Ort in einem Augenblick „in einen Ort des Schreibens“.

Ein Freiluftkonzert, kurz übertönt von einem landenden Flugzeug, „- es war das übliche Getöse Roms, Krach gegen Kunst“, und in diesem Augenblick überschwappen Ostseewellen vor dem inneren Auge Lutz Seilers die Hosenbeine des russischen Generals, Krusos Vater, der seinen Sohn heimholen will:

„Und da stand er nun, in der Fülle seiner Macht, die jetzt gebrochen war auf die vielfältigste Weise. Ein Bild, das augenblicklich die ganze Geschichte enthielt, ein Bild, dem ich absolut vertrauen konnte, ein Portal, durch das ich gehen konnte, hinein in den Stoff dieser Zeit.“

Schöner Beinahe-Scheitern: Poetisch, humorvoll, nicht ohne Selbstironie erzählt Lutz Seiler von den Plagen des Schriftstellerdaseins. Eine Erzählung, die nicht nur Schreibende anspricht – denn sie beinhaltet eigentlich eine Allerweltsweisheit: Erzwingen lässt sich nichts. Erst ohne äußeren und inneren Druck wächst Kreativität. When in Rome, do as the romans do ….

Beinahe ein stilistisches-sprachliches Gegenstück ist in diesem Band die zweite, oben bereits erwähnte Erzählung – fast schon eine Glosse über italienische Bürokratie, italienischen Fußballkult, das Geheimnis des „Catenaccios“. Bravo, Lutz! Durch diesen Text versteht man die Tränen Buffons noch einmal besser!

Zu einem Schmuckstück wird dieser Band des noch jungen Ulmer Verlags „Topalian & Milani“ ebenso durch die Gestaltung – das weckt Sammlerinstinkte und macht die Hoffnung auf mehr (im Herbst erscheinen in dieser Reihe zwei Novellen von Stefan Zweig). Den beiden Seiler-Erzählungen sind beigestellt Illustrationen von Max P. Häring (hier kann man sich einen Eindruck von seinen Arbeiten machen: http://www.maxhaering.de/), weit mehr als Ergänzungen zum Text, eigenständige Kunstwerke, die Rom in einem anderen Licht erscheinen lassen …

Zudem ist das gebundene Buch gedruckt auf handschmeichlerischem Munken-Papier, hochwertig und einfach schön gemacht!

Eine weitere Besprechung findet sich bei Con=Libri: https://litos.wordpress.com/2016/07/01/rom-oder-roman/

Zur Verlagsseite geht es hier: http://www.topalian-milani.de/

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Das Literaturblog Sätze&Schätze gibt es seit 2013. Gegründet aus dem Impuls heraus, über Literatur und Bücher zu schreiben und mit anderen zu diskutieren.

17 thoughts on “Lutz Seiler: Die römische Saison (2016).

  1. War gestern in der Post. Liegt noch auf dem „Tisch“ und wartet auf Lektüre. Aber allein die Aufmachung und Gestaltung des Büchlein hat mich bereits überzeugt. Nach Deinem Beitrag bin ich auf den Inhalt nun umso mehr gespannt. Danke. lg_jochen

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    1. Stimmt, schon die Gestaltung ist eine Freude. Bin gespannt, wie Dir die Erzählungen gefallen. Fand das ganz spannend, da ich bislang keine Erzählungen von Seiler gelesen habe, ich kannte ihn als Lyriker und natürlich Kruso … und v.a. in der Fußballgeschichte schlägt er einen - für mich - neuen Ton an, ganz schön.

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  2. Wieso ist dieser Band mir unbekannt? Danke für díe Entdeckung, Birgit. Ich mag Lutz Seiler sehr. Über Rom und die Schreibblockade hat er ja bereits einmal in der ZEIT geschrieben. Ich bestelle das Buch sofort!

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    1. Liebe Marina, der Verlag ist ja noch klein und jung und muss sich die Aufmerksamkeit auf dem Literaturmarkt noch erkämpfen … umso mehr freut es mich, wenn Du jetzt auch auf das Buch neugierig geworden bist! Denn die beiden Verleger leisten engagierte Arbeit, nicht nur für das schöne Buch, wie an diesem Beispiel sicht- und greifbar wird, sondern beispielsweise auch durch das erstklassige Programm bei der Literaturwoche Ulm: https://literatursalonulm.com/

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  3. Liebe Birgit, dein freundlicher Hinweis erreichte mich heute morgen auf dem Weg zum Fanfiction-Workshop - da habe ich gar nicht realisiert, dass der Text jetzt in einem Buch erschienen ist. Auch ich hatte ihn damals in der Zeit gelesen und fand ihn großartig - zur Ermutigung und auch als Beispiel dafür, wie unvorhersehbar kreative Prozesse oft verlaufen … Viele Grüße und besten Dank nochmals für den Hinweis!

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    1. Liebe Jutta,
      ich hatte ihn dafür in der Zeit verpasst - und dort ist er zwar online noch zu lesen, aber in der schönen Gestaltung und ergänzt durch die zweite autobiographische Erzählung (nicht nur für Fußballfans schön zu lesen) noch schöner … Ja, ein ermutigender Text - der einmal mehr beweißt, dass alles „zwanghafte Wollen“ - zu sehen auch an unserem torlosen Müller - zu nichts führt, dass zum Talent auch Lockerheit gehört (na, freust Du Dich über die Steilvorlage????)

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      1. … frage mich seit gestern, ob du eher auf mein reflexhaftes Anspringen auf Talent oder Fußball anspielst? Solange ich da nicht sicher bin, bleibe ich einfach mal ganz cool😉

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      2. Hatte ich schon mal erwähnt, dass das in meinen Augen eine Berufskrankheit ist: dass ich es manchmal nicht ertragen kann vorhersehbar zu sein, obwohl es eigentlich ja reichen würde, wenn meine Texte es sind?😉

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  4. Liebe Birgit,
    bei mir liegt das Buch auch schon auf dem Sofa. Und beim ersten Hineinschnuppern hat mir der Text sehr gut gefallen. Diese Schreibbblockade in dem großen Raum mit den hohen Wänden, den Lutz Seiler sich schon durch einen Schrank in einen kleinen Arbeitsraum umräumen musste, wird ja quasi mit Händen greifbar. So lässt der Anfang noch auf viel Lektürefreude schließen. Die muss aber noch ein bisschen warten. Erst stehen andere Projekte an, sie fertig zu lesen - und ich muss endlich auch mal wieder über Gelesenes schreiben. Es gibt da so eine recht ausgeprägte Schreibunlust…
    Viele Grüße, Claudia

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  5. Mir fiel beim Lesen das Buch „Muße. Vom Glück des Nichtstuns“ von Schnabel ein. Darin kommt auch die Villa Massimo vor und dass sie eben genau das bieten soll: Die Möglichkeit, mal nicht nur zielgerichtet zu schaffen, sondern Freiräume zu haben, in denen sich Kreativität entfalten kann. Und dass sie sich besonders dann entfaltet, wenn man der Muße frönt:)

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